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Eine Insolvenzordnung für Staaten würde den Euroraum instabiler machen

 

Schon seit langem wünschen sich viele Ökonomen ein Insolvenzregime für Staaten, jüngst etwa der Sachverständigenrat für Wirtschaft (SVR) in einem Sondergutachten oder der Leiter des ZEW, Clemens Fuest, in der ZEIT. Wie für Unternehmen und private Haushalte, so sollte es auch für zahlungsunfähige Staaten ein geordnetes Verfahren zur Reduktion ihrer Schulden geben. Bei dem müssten die Gläubiger ganz oder teilweise auf ihre Forderungen verzichten. Davon versprechen sich SVR und Co., dass Banken und andere Finanzmarktakteure in Zukunft genauer hinschauen, wenn sie einem Staat Geld leihen, und sich von potenziellen Wackelkandidaten ein höheres Ausfallrisiko mit höheren Zinsen vergüten lassen.

Allein die steigenden Kosten der Verschuldung könnten dafür sorgen, dass ein Land erst gar nicht in die Gefahr der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit kommt. Träte dieser Fall trotzdem einmal ein, könnten Gläubiger nicht mehr darauf vertrauen, durch die öffentliche Hand anderer Länder „rausgehauen“ zu werden. Nicht mehr deren Steuerzahler, sondern die Banken und andere Kreditgeber müssten für das eingegangene Risiko haften.

Das alles sind auf den ersten Blick gute und schwerwiegende Argumente. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die Sache nicht so einfach ist und bei Einführung eines staatlichen Insolvenzregimes im Euroraum mit höchst unerfreulichen Nebenwirkungen zu rechnen ist.

Die Crux bei so einem Insolvenzverfahren ist nämlich, dass gar nicht so klar ist, wann ein Staat eigentlich fundamental nicht mehr in der Lage ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen (dazu auch Johannes Schmidt). Das führt aber dazu, dass schon die Erwartung einer Zahlungsunfähigkeit durch Finanzmärkte zur tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit führen kann – und Staaten damit abhängig von den Launen der Finanzmärkte werden.

Dass Staaten durch sich selbst erfüllende Erwartungen zahlungsunfähig werden können, kommt daher, dass sie ihre Schulden in der Regel nie zurückzahlen, sondern immer verlängern. Zur Tilgung von Altschulden nehmen sie einfach neue Schulden auf – was übrigens auch bei den meisten Unternehmen nicht anders ist. Wenn die Banken ihre auslaufenden Kredite aber plötzlich nicht mehr verlängern und das Geld sofort zurückhaben haben wollen, droht die Zahlungsunfähigkeit. Denn auch Staaten haben meist das Geld für die Tilgung nicht einfach herumliegen.

Erwarten nun Banken, dass ein Gläubiger zahlungsunfähig wird, können sie die Bedingungen für die Kreditverlängerung verschärfen, etwa, indem sie sehr viel höhere Zinsen und zusätzliche Sicherheiten verlangen. Das aber erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Schuldner gar nicht mehr refinanzieren kann und dadurch zahlungsunfähig wird. Genau das ist in Griechenland, Irland und Portugal 2010 und 2011 ja geschehen.

Bei Unternehmen kann das im Prinzip genau so laufen (und bei Banken ist das auch manchmal der Fall). Bei ihnen gibt es aber ein Kriterium dafür, ob sie fundamental zahlungsfähig sind oder nicht, nämlich die Höhe ihres Eigenkapitals. Banken stellen ihre Kreditvergabe meistens nur dann ein, wenn sie befürchten, dass ein Unternehmen – etwa durch große Verluste – so viel Eigenkapital verliert, dass die Vermögenswerte die ausstehenden Schulden nicht mehr decken. Dann ist es in der Sprache des deutschen Insolvenzrechts „überschuldet“. Ist das Eigenkapital aber hoch genug, werden Banken in der Regel nicht so einfach den Kredithahn zudrehen, so dass die Gefahr einer sich selbst verwirklichenden Erwartung von Zahlungsunfähigkeit bei Unternehmen sehr gering ist.

Bei Staaten gibt es das Eigenkapitalkriterium aber nicht. Natürlich hat auch ein Staat Vermögenswerte, die den Schulden gegenüberstehen. Aber diese können nicht wirklich als Kreditsicherheit verwendet werden. Kein souveräner Staat kann sich glaubhaft dazu verpflichten, im Notfall seine öffentliche Infrastruktur zu verkaufen, um damit seine Schulden zurückzuzahlen. Einen Staat kann man nicht so leicht auflösen wie ein Unternehmen. In der Praxis gibt es auch keine Prüfung durch irgendeine Instanz, ob ein Staat genug Eigenkapital hat. Das liegt unter anderem daran, dass das wichtigste Vermögen des Staates kaum seriös zu bewerten ist, nämlich seine Möglichkeit, sich per Steuern Geld bei seinen Bürgern zu besorgen.

Da das Eigenkapital für Staaten ein schlechter Indikator für Überschuldung ist, meint der Sachverständigenrat, die Schuldenstandquote – der Schuldenstand in Prozent des BIP – könne eine gute Maßzahl für die Überschuldung eines Staates sein. So überlegt der SVR etwa, Staaten dann in ein Insolvenzregime zu schicken, wenn sie eine Schuldenstandquote von 90 Prozent erreichen. Aber leider ist das Schuldenstandkriterium überhaupt kein gutes Kriterium für Überschuldung.

Ginge es danach, wäre nicht nur Griechenland fundamental insolvent, sondern unter anderem auch Italien und Belgien, und zwar schon, als sie dem Euroraum beigetreten sind. Italiens Staatsschulden lagen 1998 bei 111 Prozent des BIP, Belgiens bei 119 Prozent. Beide Staaten konnten sich aber mehr oder weniger problemlos auch in der Eurokrise weiterhin refinanzieren. Besonders bei Belgien macht sich niemand Sorgen, obwohl der Staat dort auch 2014 noch mit satten 106 Prozent des BIP verschuldet war. Selbst der deutsche Staat kam 2010 mit einer Schuldenquote von 80 Prozent der 90 Prozent-Marke recht nahe.

Außerhalb des Euroraums war Japan 2014 mit 250 Prozent des BIP verschuldet, die USA mit 105 Prozent und Großbritannien mit 89 Prozent – alle über, oder nahe den 90 Prozent, ab denen der SVR Staaten am liebsten in die automatische Insolvenz schicken würde. Aber anders als im Fall Irland, Griechenland oder Portugal stand in keinem dieser Länder der Staat im Laufe der Finanzkrise irgendwann vor der faktischen Zahlungsunfähigkeit.

Das liegt daran, dass die Zentralbanken in Japan, Großbritannien und den USA große Teile der Staatsschulden gekauft haben. Anleger in diesen Ländern brauchen keine Angst vor der Zahlungsunfähigkeit der Staaten zu haben, denn jeder Anleger kann im Notfall seine Staatsanleihen der Zentralbank verkaufen und dafür Geld bekommen – vollkommen unabhängig davon, wie hoch die Staatsverschuldung ist. Ist ein Staat also in einer Währung verschuldet, die die eigene Zentralbank drucken kann und im Notfall auch druckt, gibt es das Problem der sich selbst erfüllenden Zahlungsunfähigkeit nicht und damit auch keine staatliche Insolvenz.

Im Euroraum ist das aber anders. Hier konnte wegen der Maastricht-Regeln bis Sommer 2012 kein Staat davon ausgehen, dass die Zentralbank im Notfall seine Schulden aufkaufen würde. Dann kündigte die EZB allerdings an, im Notfall ohne Beschränkung Staatsanleihen zu kaufen und machte das ab Anfang 2015 auch tatsächlich im Rahmen des Programmes der „Quantitativen Lockerung“ – von allen Staaten außer Griechenland und Zypern. Bis 2012 konnte also jeder Staat im Euroraum im Prinzip zahlungsunfähig – also insolvent – werden.

Das alles zeigt, dass es überhaupt kein hartes Kriterium dafür gibt, ab wann ein Staat eigentlich insolvent ist. Er ist dann zahlungsunfähig, wenn niemand mehr bereit ist ihm Kredit zu geben. Wann das aber geschieht, kann keiner vorher sagen. Der Fall Griechenlands ist hier ganz instruktiv: Als Hauptgrund für die drohende Zahlungsunfähigkeit des griechischen Staates im Jahr 2010 gilt vielen, dass das Staatsdefizit und die Staatsschulden tatsächlich sehr viel höher ausfielen als vorher vom Statistikamt vermeldet. Aber im Jahr 2004 gab es einen vergleichbaren Vorfall in Griechenland: Da hatte sich ebenfalls nach einem Regierungswechsel herausgestellt, dass die Vorgängerregierung massiv Defizit- und Schuldenstandzahlen geschönt hatte. Der Effekt auf den Finanzmärkten: Es gab keinen. Die deutschen und französischen Banken liehen auch nach Auffliegen der Statistikfälschung immer höhere Summen zu immer niedrigeren Zinsen.

Das heißt: Sind die Finanzmärkte sich selbst überlassen und die Zentralbank interveniert nicht, kann im Prinzip jeder Staat zu jeder Zeit zahlungsunfähig werden. Genau das macht aber ein „quasi-automatisches“ Insolvenzverfahren, wie der SVR sich das vorstellt, vollkommen unpraktikabel. Noch schwerer wiegen bei der vollkommenen Unklarheit, wann denn eigentlich Insolvenz herrscht, Forderungen wie etwa die einer Expertengruppe von Ökonomen, dass staatliche Souveränität dann enden soll, wenn die staatliche Solvenz endet („sovereignty ends when solvency ends„). Genau das ist ja im Moment auch in Griechenland der Fall. Das heißt, im Euroraum hat man den Finanzmärkten die Entscheidung darüber gegeben, ab wann die Souveränität eines Staates endet.

Das alles wären recht akademische Fragen, wenn ein Schuldenschnitt an sich eine gute Sache wäre. Befürworter eines Insolvenzregimes argumentieren ja, dass ein Schuldenschnitt Staaten von einem hohen Schuldendienst befreit und den Banken eine Lehre sein würde, sich in Zukunft vorsichtiger zu verhalten. Das ist zwar beides richtig, aber ein Schuldenschnitt hat auch sehr unangenehme Nebenwirkungen.

Als Griechenland 2012 seine Schulden per „Haircut“ verringerte, war erst mal das gesamte griechische Bankensystem pleite, das viele griechische Staatsanleihen hielt. Das gleiche galt für das zyprische Bankensystem – so dass der griechische Schuldenschnitt 2013 Zypern in die Zahlungsunfähigkeit und in ein Troika-Programm zwang. Auch griechische Rentenfonds hielten Staatsanleihen und verloren damit große Teile ihres Vermögens. Das ist unter anderem einer der Gründe für die folgenden massiven Rentenkürzungen in Griechenland. Das Bankensystem musste dann durch neue Staatsschulden rekapitalisiert werden – insgesamt 19 Prozent der gesamten Hilfskredite, die Griechenland ab 2010 von IWF und EFSF erhielt, wurden für die Rettung der griechischen Banken nach dem Schuldenschnitt verwendet.

Um zu zeigen, dass ein Schuldenschnitt aber wenigstens zu mehr Wachstum führen kann, zitieren viele eine Studie von Carmen Reinhart und Christoph Trebesch, die zeigt, dass die Wirtschaft von Ländern stark gewachsen ist, nachdem deren Staaten ihre Schulden restrukturiert haben. Die beiden Wissenschaftler zeigen aber explizit keine Kausalität auf. Vielmehr schreiben sie, dass die Wirtschaft zumeist dann wieder gewachsen ist, wenn die Währung nach dem Schuldenschnitt abgewertet hat und dadurch die Exporte gesteigert werden konnten.

Bekanntermaßen ist Griechenlands Wirtschaft nach dem Schuldenschnitt auch nicht gewachsen, ganz im Gegenteil. Solange ein Land im Euroraum ist, kann es seine Währung nicht abwerten wie es die Ländern getan haben, die Reinhart und Trebesch untersucht haben. Ohne Abwertungsmöglichkeit dominiert aber ein anderer Effekt, der das Wachstum stark bremst: Weil eine Staatsinsolvenz oder die Drohung der Staatsinsolvenz die Anleihen eines Staates unsicherer macht, steigen die Anleihezinsen, was sich Insolvenzbefürworter ja explizit wünschen. Das hat aber negative Konsequenzen für die ganze Wirtschaft, weil an den Zinsen für Staatsschulden auch die Zinsen für private Kredite hängen: Sind höhere Zinsen für Staatsanleihen zu zahlen, dann auch höhere Zinsen für Unternehmenskredite.

Die höhere Unsicherheit bestimmter Staatsanleihen hat darüber hinaus auch zu einer politisch gefährlichen Asymmetrie in die Währungsunion geführt, die durch ein formales Insolvenzregime zementiert werden könnte: Banken kaufen Staatsanleihen auch deswegen, weil sie diese als Sicherheit bei der EZB hinterlegen können, um sich mit der für sie notwendigen Liquidität zu versorgen. Je risikobehafteter eine Staatsanleihe ist, desto weniger Geld gibt die EZB. Banken aus Peripherieländern werden dann vermehrt deutsche Staatsanleihen kaufen und weniger die Anleihen des eigenen Staates.

Dadurch profitieren der deutsche Staat und andere als sicher eingestufte Staaten von der Schuldenschnittangst in der Peripherie. Zinsen von sicheren Anleihen sinken (und auch die Zinsen der deutschen Sparer), so dass gleichzeitig die Gefahr einer Staatsinsolvenz für die als sicher gewähnten Staaten geringer wird. Umgekehrt wird mit einem formalen Insolvenzregime die sich selbst verwirklichende Zahlungsunfähigkeit von weniger sicheren Staaten in der nächsten Finanzkrise noch wahrscheinlicher, denn die Banken haben wegen der Schuldenschnittgefahr weniger Anreize, die Anleihen von Peripheriestaaten zu kaufen.

Dadurch werden aber die meisten Staaten ökonomisch und damit auch politisch abhängig von Deutschland – genau das, was wir jetzt sehen und was Frankeich und viele andere Euromitglieder eigentlich mit der Einrichtung des Euro verhindern wollten. Die ökonomische und politische Instabilität des Euroraums würde also mit einem Insolvenzregime – entgegen der Meinung der Insolvenzbefürworter – steigen, nicht sinken.

Gerade jetzt, wo die EZB offensiv öffentliche Anleihen kauft, braucht man ein formales Insolvenzregime im Euroraum eigentlich auch gar nicht mehr. Denn durch die EZB-Käufe ist die Gefahr sich selbst erfüllender Zahlungsunfähigkeiten gebannt. Das zeigen die Beispiele Portugal und Irland. Beide Länder stecken nicht mehr in einem EFSF/IWF-Programm, ihnen geht es aber nicht besser als vor der Krise. Im Gegenteil, sie haben jetzt viel höhere öffentliche Schuldenstände und wären damit nach SVR-Logik in noch größerer Insolvenzgefahr. Dass aber ihre Zinsen – und auch die Spaniens und Italiens – jetzt nicht mehr besonders hoch sind, die Finanzmärkte also einen Zahlungsausfall quasi ausschließen, hängt wesentlich mit der Anleihenkaufpolitik der Zentralbank zusammen.

Dass die EZB wegen ihrer selbst gesteckten Regeln zurzeit keine griechischen Anleihen kauft, ist mit einer der Gründe, warum Griechenland weiterhin im Schuldenlimbo steck. Dass sie die Anleihen fast aller anderen Länder kauft und damit deren Zahlungsfähigkeit sicherstellt, ist der wesentliche Grund dafür, dass die griechische Krise nicht mehr wie 2011 zur Krise der anderen Staaten wird. Die Einführung eines formalen Insolvenzregimes mit institutionalisierter Schuldenschnittmöglichkeit könnte die prekäre finanzielle Stabilität, die im Euroraum gerade herrscht, wieder zunichtemachen und die politischen und ökonomischen Spannungen zwischen den Euroraummitgliedern weiter steigen lassen.