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Die Wendekanzlerin

 

Dies ist ein Beitrag über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Er beginnt aber mit der Eurokrise. Diese Krise hat die Kanzlerin anfangs bekanntlich als Staatsschuldenkrise verstanden und daraus den Schluss gezogen, dass ihr nur beizukommen sei, wenn in Europa mehr gespart werde. Zu diesem Zweck wurden Fiskalpakt, Stabilitätspakt und eine Reihe von anderen Pakten ersonnen beziehungsweise verschärft, und unter den deutschen Merkel-Beobachtern hat sich in der Folge die Einschätzung durchgesetzt, dass sie als Siegerin vom Platz gegangen ist: Sie war die Kanzlerin der Austerität.

Wenn man sich die Sache einmal näher anschaut, stellt man jedoch fest, dass es in Europa überhaupt keine Austerität mehr gibt – zumindest, wenn man als Maßstab für den Restriktionsgrad der Finanzpolitik die Entwicklung des strukturellen Defizits heranzieht. Dieses wurde bis zum Jahr 2014 zurückgeführt, steigt aber seither wieder, und ganz allgemein sind Merkels Pakte immer mehr Eurostaaten ziemlich egal (siehe Grafik).

Grafik: Euroraum strukturelle Defizite 2012-2017

Merkel predigt also zwar weiter Sparsamkeit, aber es hört ihr niemand mehr zu. Warum gehe ich darauf ein? Weil dieser Sachverhalt den wenigsten Beobachtern in Deutschland bekannt ist. So kann die Kanzlerin weiter behaupten, sie sei hart geblieben, obwohl das mit der Realität nichts mehr zu tun hat.

Ganz ähnlich ist es in der Flüchtlingskrise, in der Merkel einen der dramatischsten Kurswechsel in der Geschichte der Republik hingelegt hat. Von der Aussage – im Interview mit Anne Will im vergangenen Herbst –, man könne „die Grenze nicht schließen“, bis zu den Ergebnissen des jüngsten EU-Gipfels ist es ein sehr weiter Weg.

Es stimmt schon: Niemand hat einen Stacheldraht quer durch die Ägäis gezogen. Es gibt auch keine Obergrenze in Deutschland. Dafür kreuzen dort jetzt aber Flottenverbände der Nato. Und wer sich trotzdem auf den Weg nach Griechenland macht, der wird in ein Lager gesteckt und dann in die Türkei zurückgeschickt.

Im Ergebnis wurden zwei Schutzwälle um Deutschland gezogen, die für die meisten Flüchtlinge unüberwindbar sind: einer in der Ägäis und einer an der Grenze zu Mazedonien. Und es geschieht, was eben geschieht, wenn sich ein Land abschottet: Es kommen viel weniger Flüchtlinge. Offenbar lassen sich Grenzen also doch ganz gut schließen.

Das kann man nun – je nach politischer Präferenz – gut oder schlecht finden, aber darum geht es mir nicht. Mir geht es vielmehr darum, wie es Merkel gelungen ist, ihren Ruf als Flüchtlingskanzlerin zu verteidigen und damit im linken Spektrum zu punkten, obwohl die Flüchtlinge auch dank ihrer Politik an der Außengrenze Europas abgewiesen werden. Deutschland ist durch diesen Deal wieder in jener angenehmen Mittellage des Dublin-Abkommens: Die Flüchtlinge sind das Problem der Italiener und der Griechen, nicht mehr unseres. Oder wie es Malte Lehming so schön im Tagesspiegel formuliert hat:

„Das Prinzip der Offenheit bleibt also vor allem deshalb erhalten, weil es keine Konsequenzen mehr hat. Gut zu sein, kostet nichts mehr. Rhetorisch ist Deutschland immer noch Margot Käßmann, aber faktisch längst Horst Seehofer.“

Vielleicht ändert sich an dieser Bewertung noch etwas, zum Beispiel weil die Bundesregierung ein großzügiges Kontingent an Flüchtlingen direkt aus der Türkei aufnimmt. Wenn nicht, wird dies eine weitere Krise sein, in der Merkel ihre Position komplett räumen musste, ohne dass es jemandem auffällt. Für Merkel selbst ist das nicht das schlechteste aller möglichen Ergebnisse.

Update: Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung hat der große britische Ökonom John Maynard Keynes einmal gesagt. Nicht der Kurswechsel ist das Phänomen, sondern dass ihn niemand wahrhaben will.