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Brexit lässt die meisten Märkte kalt

 

Von Panik keine Spur! Was die Realwirtschaft Großbritanniens, Eurolands und der OECD insgesamt angeht, sind alle Prognosen, die ich in den vergangenen Tagen gesehen habe, stark nach unten revidiert worden, aber zumindest an den Aktienmärkten hat sich davon bisher niemand beeindrucken lassen. Ein Einbruch der Gewinne wird nicht erwartet. Das Pfund ist stark unter Druck, der Goldpreis klettert Tag für Tag und sowohl die kurzen als auch die langen Zinsen sind im Sinkflug, aber so etwas wie einen Lehman-Effekt, der im Herbst 2008 die heiße Phase der globalen Finanzkrise einläutete, hat es nicht gegeben. Bisher ist ja nichts Entscheidendes geschehen, und es könnte sein, dass auch nichts geschehen wird. Die Briten lassen sich jedenfalls mit ihrem Austrittsantrag viel Zeit.

Für die deutschen Märkte war der Brexit fast ein Non-Event. Gemessen am DAX stehen die Aktien fast genau da, wo sie vor der Volksabstimmung waren. Wie im Rest Europas sind allerdings die Banken erneut kräftig gebeutelt worden. Offenbar gehen die Marktteilnehmer davon aus, dass die Deflationsrisiken zugenommen haben und dass daher die Marge zwischen den Zinsen, die sich auf der Aktivseite der Bilanz mit Krediten und Wertpapieren verdienen lassen, und den Kosten der Refinanzierung weiter schrumpfen wird. Auf diese Weise trocknet die wichtigste Gewinnquelle der Banken zunehmend aus. Die Kurse der übrigen Aktien haben seit dem Brexit eher leicht gewonnen. Von den Wechselkursen her hat sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen nicht verschlechtert: Die Aufwertung des Euro gegenüber dem Pfund Sterling wurde bisher durch eine Abwertung gegenüber Dollar und Yen mehr als kompensiert.

Ich kann gut verstehen, weshalb die Aktienkurse im britischen FTSE 100 seit der Volksabstimmung um fast 3,5 Prozent zugelegt haben. Es handelt sich in dem Index vorwiegend um Unternehmen, die international aktiv sind. Die scharfe Abwertung des Pfund Sterling gegenüber dem Euro – von 0,78 auf 0,85, oder um acht Prozent – hat ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessert; auch die Gewinne, die sie vorwiegend im Ausland erzielen, dürften, in Pfund gerechnet, proportional zunehmen. Der FTSE 250-Index, in dem sich vor allem inländisch orientierte Unternehmen befinden, ist dagegen seit dem Brexit um etwas mehr als neun Prozent gefallen. Darin spiegelt sich die Erwartung, dass die Investitionen und der private Konsum in den nächsten Quartalen zurückgehen und die Immobilienpreise möglicherweise sogar einbrechen werden.

Brexit lässt die meisten Märkte kalt

Vermutlich erwarten die Marktteilnehmer darüber hinaus, dass die Abwertung des Pfunds und damit der Höhenflug der internationalen Aktien am Londoner Markt weitergehen wird. Der letzte Tiefpunkt – 0,98 Pfund je Euro von Anfang 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise – ist ja noch um Einiges vom heutigen Kurs von 0,86 entfernt. Wenn es nach den fundamentalen Faktoren des Pfundkurses ginge, könnte demnächst durchaus die Parität zum Euro erreicht werden: Das Defizit in der Leistungsbilanz beläuft sich auf 6,5 Prozent des nominalen BIP, das Defizit im Staatshaushalt auf 3,5 Prozent, und expansive finanzpolitische Maßnahmen sind bereits in der Pipeline.

Für die Bank of England passt ein schwacher Wechselkurs gut ins Bild, weil eine neue Rezession, wie sie jetzt allgemein vorhergesagt wird, das Deflationsrisiko wieder erhöht. Eine Abwertung wirkt tendenziell inflationär, ist also erwünscht. Die Bank ist daher dabei, ihre Zügel noch einmal deutlich zu lockern. So erwartet etwa die britische Investment Bank Barclays, dass die Leitzinsen am 4. August von 0,5 Prozent auf Null gesenkt werden. Die Notenbank wird alles tun, damit es zu keinen Engpässen bei der Liquidität und der Kreditvergabe der Banken kommt.

Brexit lässt die meisten Märkte kalt

An den britischen Bondmärkten ist es angesichts dieser Aussichten derweil zu einer richtigen Rallye gekommen. Am Tag des Brexit betrugen die Renditen der zehnjährigen Staatsanleihen 1,37 Prozent – heute, also nach noch nicht einmal zwei Wochen – haben sie 0,77 Prozent erreicht. Die Deflationsangst geht um (trotz der Pfundabwertung).

Bondrallyes gibt es im Übrigen auch in anderen Ländern. In Deutschland verzinsen sich die Zehnjährigen inzwischen mit minus 0,18 Prozent, nachdem Mitte Juni erstmals die Nulllinie erreicht worden war. Dass die Konjunktur gut läuft und es erste Anzeichen dafür gibt, dass sich die Inflation von Löhnen und Verbraucherpreisen beschleunigt, ist bei den Marktteilnehmern noch nicht angekommen. Erst einmal setzen sie darauf, dass die EZB ihre Politik wegen der neuen Rezessionsgefahren weiter lockern wird. Davon profitieren die Bundesanleihen, ebenso wie von der Tatsache, dass sie als relativ sicher gelten. Es gibt ja nicht mehr viele andere Wertpapiere, die beim Rating ein dreifaches A aufweisen.

Brexit lässt die meisten Märkte kalt

In den USA sind die Bondrenditen erstaunlicherweise ebenfalls ins Rutschen gekommen. Dabei hat die Fed ihr Ankaufsprogramm für Bonds schon längst eingestellt und wird es vermutlich auch nicht mehr reaktivieren. In den vergangenen Monaten gab es jedoch schlechte Nachrichten vom Arbeitsmarkt, und ein sich selbst tragender Aufschwung ist auf einmal nicht mehr in Sicht. Eigentlich sollten die Leitzinsen in den kommenden Monaten mehrmals erhöht werden, das scheint aber vom Tisch zu sein. Da nur vier Prozent der amerikanischen Exporte auf Großbritannien entfallen, ist der realwirtschaftliche Effekt des Brexit auf die US-Konjunktur nur ein weiterer Vorwand, die expansive Geldpolitik beizubehalten.

Noch gehen die meisten Analysten davon aus, dass die amerikanische Inflationsrate am Jahresende bei über zwei Prozent liegen wird, das scheint aber für die Notenbank weniger ins Gewicht zu fallen als das Risiko, dass es im weiteren Verlauf des Jahres zu einer Rezession kommt. Wäre sie nach sieben Jahren Aufschwung nicht ohnehin allmählich fällig? Am US-Bondmarkt jedenfalls wird ähnlich gedacht: Seit dem Brexit sind die Renditen der zehnjährigen Treasuries um 30 Basispunkte auf 1,35 Prozent gefallen. Übrigens ist auch am amerikanischen Aktienmarkt nichts von den Effekten der britischen Volksabstimmung zu bemerken – die Kurse bewegen sich kaum.

Die Akteure an den Ölmärkten hat Brexit ebenfalls kalt gelassen. Nach wie vor pendelt der Preis für ein Fass der Sorte Brent zwischen 46 und 49 Dollar, ohne eine klare Tendenz. Ich vermute allerdings, dass er demnächst der Tendenz nach eher sinken als steigen wird, weil die Weltkonjunktur per saldo an Dynamik zu verlieren scheint.

Brexit lässt die meisten Märkte kalt

Warum also hat der Brexit bisher so wenig nachhaltige Spuren an den Märkten hinterlassen? Es kann nicht nur damit zu tun haben, dass das Vereinigte Königreich wirtschaftlich ein so geringes Gewicht hat – der Internationale Währungsfonds schätzt seinen Anteil am globalen BIP auf 2,9 Prozent – oder dass die überfällige Abwertung des Pfunds die britische Konjunktur stimulieren wird. Wichtiger dürfte sein, dass es am Ende doch nicht zu einem Austritt aus der Europäischen Union kommen wird. Der Bevölkerung wird zunehmend bewusst, dass die Vorteile eines solchen Schritts vor allem theoretischer Natur sind, die wirtschaftlichen Nachteile dagegen auf der Hand liegen. Deshalb haben Cameron, Farage und Johnson, die dem Land den Brexit eingebrockt hatten, inzwischen geradezu fluchtartig das Schlachtfeld verlassen.

Jetzt sind die Verfassungsrechtler am Zuge. Sie dürften argumentieren, dass eine solche für die Nation existenziell wichtige Frage wie die Zugehörigkeit zur EU nicht durch eine knappe und daher vielleicht zufällige Mehrheit entschieden werden darf. 60 Prozent oder sogar zwei Drittel der Wahlberechtigten hätten einem solch folgenreichen Schritt schon zustimmen müssen. Zudem ist nicht klar, ob eine Regierung ohne eine Mehrheit im Parlament den Austritt aus der EU beschließen darf. Offenbar möchten die meisten Mitglieder des Unterhauses in der EU bleiben. Da der Beitrittsvertrag vor 43 Jahren ja durch das Parlament ratifiziert worden war, liegt es nahe, dass es auch über den Austritt bestimmen muss. Klar ist, dass das Ergebnis des Referendums in einer repräsentativen Demokratie lediglich empfehlenden Charakter hat, das Parlament also nicht bindet.

Es könnte darauf hinauslaufen, dass der Austritt immer wieder verschoben und am Ende abgeblasen wird. Für die EU wäre es dann am Ende vor allem ein Weckruf gewesen. Ein „immer weiter so“ darf es nicht geben.