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Deutscher Leistungsbilanzüberschuss – Fluch oder Segen?

 

Logo: Wirtschaftsdienst - Zeitschrift für WirtschaftspolitikExklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss steht international und vor allem in der Europäischen Union in der Kritik. Er übersteigt deutlich die Zielvorgaben des EU-Überwachungsverfahrens. Welche Ursachen hat die auseinanderlaufende Entwicklung der Exporte und Importe? Bietet Deutschland bessere und preisgünstigere Waren an als seine Konkurrenten? Liegt es an billigeren Importen, weil der Ölpreis gesunken ist? Oder wurden die Überschüsse binnenwirtschaftlich verursacht – durch eine zu hohe Sparquote oder zu geringe Investitionen? Das Phänomen wird von Außenhandelsexperten in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsdienst sehr unterschiedlich interpretiert.

Die Wissenschaftler des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Jürgen Matthes und Michael Grömling, können zumindest kein strukturelles Problem erkennen: Ja, der Außenbeitrag (der Saldo aus Exporten und Importen von Waren und Dienstleistungen) wird sich 2016 auf knapp 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen, nachdem er im Jahr 1993 noch mehr oder weniger ausgeglichen war (vgl. Abbildung 1).Quelle: Wirtschaftsdienst Aber diese Entwicklung basiere auf einzelnen „schockbeladenen Perioden“ – insbesondere während die Stagnationsjahre 2001 bis 2004 und durch die Importschwäche des Jahres 2012 sei es jeweils zu einer sprunghaften Divergenz von Exporten und Importen gekommen, ihre Dynamik wäre in der übrigen Zeit aber gleich gewesen, so die Autoren des IW. Die aktuelle Entwicklung interpretieren sie wie folgt: „[D]er überaus starke Anstieg des nominalen Außenbeitrags in den letzten drei Jahre [beruht] ausschließlich auf einem Preiseffekt. […] Die deutlich eingebrochenen Rohstoffpreise haben […] die Importwerte erheblich gedämpft und somit den nominalen Außenbeitrag auf einen neuen Rekordwert gehievt.“

Mittelfristig werde sich der deutsche Leistungsbilanzüberschuss aber verringern, prognostiziert Heiko Peters von der Forschungsabteilung der Deutschen Bank. Er führt dazu drei Gründe an: die Abschwächung des globalen Handels, sowie der Immobilienboom und die demografische Entwicklung in Deutschland. Während der geringere Zuwachs der globalen Nachfrage in den nächsten Jahren direkt über eine Belastung der Exporte den Leistungsbilanzüberschuss dämpft, würde der Immobilienboom sowohl über höhere Investitionen wie tendenziell höhere Konsumausgaben die Importe steigern. Zudem wird der demografische Wandel zu einem wachsenden Anteil an Rentnern in Deutschland führen, wodurch die Sparquote zurückgehen wird. Peters schätzt, dass sich die Überschüsse in der Leistungsbilanz bis 2020 so um 20 Prozent verringern.

Soll die Wirtschaftspolitik Einfluss auf die Leistungsbilanz nehmen? Dieser Frage geht Philipp Harms von der Universität Mainz in seinem Beitrag nach. Er nähert sich bei der Ursachenanalyse der Leistungsbilanzüberschüsse dem Problem von der Seite der Spar- und Investitionsentscheidungen der drei inländischen Sektoren (Unternehmen, private Haushalte und Staat), da sich der Leistungsbilanzsaldo als Differenz der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis und Investitionen darstellen lässt, wobei die Ersparnis als Differenz zwischen Einkommen und Konsumausgaben definiert ist. Harms konstatiert, dass die Sparquote seit der Jahrtausendwende um etwa 5,5 Prozentpunkte gestiegen ist, während die Investitionsquote im gleichen Zeitraum um rund 4,5 Prozentpunkte sank. (vgl. Abbildung 2)Quelle: Wirtschaftsdienst Er nennt eine Reihe von Ursachen, die als Erklärung für das Auseinanderdriften der beiden Quoten und den Anstieg der Leistungsbilanzüberschüsse in der Diskussion sind. Es sei jedoch völlig offen, inwiefern es sich dabei um strukturelle Verzerrungen handele oder nicht. Auch das Modell des IWF unterläge letztendlich diesem Mangel, und lässt die damit ermittelten Richtwerte für Deutschland als fragwürdig erscheinen. Mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen, deren Wirkungen auf die Spar- und Investitionsentscheidungen zudem noch höchst ungewiss seien, einen Zielwert für den Leistungsbilanzsaldo anzusteuern, sei deshalb höchst problematisch.

Hohe Wettbewerbsfähigkeit oder zu schwache Nachfrage – was treibt den Leistungsbilanzüberschuss? Das ist die Frage, die sich Gustav Horn und Fabian Lindner vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in ihrem Beitrag stellen. Die Autoren knüpfen an eine laufende Debatte an, bei der es um die Frage geht, „ob die Lohn- und Preisentwicklung eine wesentliche Ursache für Ungleichgewichte im Außenhandel ist oder ob eher unterschiedliche wirtschaftlichen Dynamiken hinter den Außenhandelsungleichgewichten stehen.“ Verschiedene Studien und ein empirischer Vergleich der Reaktion deutscher Exporte und Importe auf Änderungen der Binnennachfrage und Preisänderungen mit der Reaktion in anderen Ländern der Währungsunion zeigen, so die Autoren, dass die Überschüsse in der deutschen Handelsbilanz (Waren- und Dienstleistungen) nicht einem außergewöhnlichen Anstieg der Exporte aufgrund einer hohen preislichen Wettbewerbsfähigkeit geschuldet sind, sondern vielmehr auf ein unterdurchschnittliches Wachstum der Importe aufgrund einer schwachen Binnennachfrage zurückzuführen seien. Wollte man den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen entgegen wirken, wäre es am effektivsten die Ausrüstungsinvestitionen anzustoßen, da sie von allen Komponenten der Binnennachfrage den höchsten Importanteil haben.

Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich das aktuelle Zeitgespräch aus der November-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:

Deutscher Leistungsbilanzüberschuss – Fluch oder Segen?, in: Wirtschaftsdienst 11/2016 (mit folgenden vier Beiträgen: „Deutsche Handelsüberschüsse – der lange Schatten weniger Krisen“ von Michael Grömling und Jürgen Matthes; „Mittelfristige Entwicklung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses“ von Heiko Peters; „‚The Taming of the Shrew‘: (Wie) Soll die Wirtschaftspolitik die deutsche Leistungsbilanz beeinflussen?“ von Philipp Harms; „Die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse: hohe Wettbewerbsfähigkeit oder zu schwache Nachfrage?“ von Gustav Horn und Fabian Lindner)