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EZB sollte die Zinsen erhöhen

 

Nach fast neun Jahren rückläufiger Leitzinsen wird es Zeit für eine Kehrtwende.

Die Marktteilnehmer glauben allerdings nicht daran: An den Terminmärkten wird erwartet, dass der Einlagezins bei der EZB, der seit März 2016 bei minus 0,4 Prozent liegt, den Negativbereich erst im Sommer 2019 verlassen wird. Das entspricht den Aussagen von Mario Draghi und seiner Kollegen. Sie betonen immer wieder, wenn auch zuletzt mit etwas weniger Überzeugungskraft, dass die Zinsen für lange Zeit niedrig bleiben werden. Also noch zwei Jahre?

Wenn sich die Notenbank streng an ihr Mandat hält, kann sie in der Tat nichts tun, denn die Inflationserwartungen, auf die es für sie ankommt, liegen wie festgezurrt bei eineinviertel Prozent statt bei knapp unter zwei Prozent, wo sie sein sollten. Gerade haben die Volkswirte der EZB ihre Inflationsprognose für 2018 auf 1,2 Prozent zurückgenommen. Selbst für 2019 erwarten sie beim „harmonisierten Verbraucherpreisindex“ lediglich ein Plus von 1,5 Prozent. Aus Sicht der Marktteilnehmer, wie sie sich in den inflationsgeschützten Staatsanleihen von Deutschland, Frankreich und Italien widerspiegelt, wird die Inflation im Durchschnitt der nächsten fünf und zehn Jahre bei rund ein Prozent beziehungsweise 1,25 Prozent liegen. Wird die EZB angesichts dieser Erwartungen je wieder die Zinsen anheben?

Grafik: Notenbankzins und Inflation im Euroraum

Außer der niedrigen Inflation gibt es noch weitere Gründe, die die EZB von einer Kehrtwende abhalten könnten:

  • Da die Anleiherenditen mehr oder weniger eng an die Geldmarktsätze und damit an die Leitzinsen gekoppelt sind, würde ein höheres allgemeines Zinsniveau den staatlichen Schuldendienst sofort wieder verteuern und damit den Abbau der Schulden erschweren oder unmöglich machen. Besonders Länder wie Portugal, Italien und Spanien wären betroffen – es könnte zu einer neuen Eurokrise kommen.
  • Höhere Zinsen gleich festerer Euro! Auch wenn EZB-Direktoriumsmitglied Bénoit Coeuré gerade in einem ausführlichen Vortrag den Nachweis zu führen versucht hat, dass ein Verfall der Einfuhrpreise (etwa als Folge einer Aufwertung) neuerdings nur einen geringen Einfluss auf die Verbraucherpreise hat – so wie die frühere Euroschwäche nicht für deutlich höhere Inflationsraten gesorgt hatte –, lässt sich zumindest tendenziell ein deflationärer Effekt nicht ausschließen. Fundamentale Faktoren wie der große Überschuss in der Leistungsbilanz Eurolands, das im internationalen Vergleich sehr geringe aggregierte Defizit in den staatlichen Haushalten sowie das robuste Wirtschaftswachstum sprechen ohnehin dafür, dass der Euro unterbewertet ist. Eine Kehrtwende bei den Leitzinsen könnte daher der Auslöser für eine neue Aufwertung in Richtung 1,30 oder sogar 1,50 Dollar pro Euro sein. Dann wäre es schnell um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen geschehen. Es könnte neue Probleme am Arbeitsmarkt geben.

Grafik: Notenbankzins und realer Wechselkurs des Euro

  • Vermutlich ist die EZB auch noch nicht von der Dynamik und Breite des Konjunkturaufschwungs überzeugt. Die Volkswirtschaften von Frankreich und Italien haben gerade erst ihre Rezessionen hinter sich gelassen und benötigen weiterhin eine expansive Geldpolitik; finanzpolitisch hat der Abbau von Defiziten und Staatsschulden Priorität, so dass es von dieser Seite keinen Spielraum für kompensierende Maßnahmen gibt. Sollte es durch einen superfesten Euro zu einem Einbruch der ausländischen Nachfrage nach europäischen Gütern und Dienstleistungen kommen, wäre die nächste Rezession nicht weit. Höhere Zinsen passen da nicht ins Bild.

Doch die Gegenargumente wiegen schwerer.

  • Trotz der prekären konjunkturellen Lage in einigen (wenigen) Ländern läuft die Wirtschaft Eurolands insgesamt sehr gut. Die extrem expansive Geldpolitik und die vorangegangene Abwertung des Euro haben ganz offenbar angeschlagen. Die EZB erwartet nunmehr, dass das reale BIP in diesem Jahr um 2,2 Prozent höher sein wird als 2016, gefolgt von einer Zuwachsrate von 1,8 Prozent im Jahr 2018. Da das Trendwachstum weniger als 1,5 beträgt, schließt sich die Outputlücke zusehends. Die Kapazitäten sind besser ausgelastet. Das fördert den Optimismus bei den Unternehmern, animiert sie zu zusätzlichen Investitionen und sorgt so mit dafür, dass sich der Aufschwung selbst trägt.

Grafik: Notenbankzinsen und Wirtschaftswachstum im Euroraum

  • Es sieht sogar danach aus, dass die Verbraucher von nun an ausgabefreudiger sein werden. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich am Arbeitsmarkt Erfreuliches getan: Die Arbeitslosenquote ist zwar immer noch bei neun Prozent, aber sie sinkt seit ihrem Höhepunkt von zwölf Prozent im Jahr 2012 Monat für Monat und ist inzwischen niedriger als zu Beginn der Währungsunion im Januar 1999. Noch besser: Die Beschäftigung nimmt neuerdings im Vorjahresvergleich mit einer Rate von 1,6 Prozent zu, so dass es zusehends leichter fällt, einen Job zu finden; für Jugendliche gilt das allerdings leider immer noch nicht. Eindrucksvoll ist darüber hinaus, dass die sogenannte Erwerbsquote seit 1999 um volle sechs Prozentpunkte auf 73 Prozent gestiegen ist. Der europäische Arbeitsmarkt brummt.

Grafik: Erwerbsquote und Beschäftigungzuwachs im Euroraum

  • Und die Löhne? Bisher haben sie nur wenig auf die stark verbesserte Lage am Arbeitsmarkt reagiert. Ich denke, dass die realen Stundenlöhne zurzeit etwa um 0,5 Prozent höher sind als vor Jahresfrist, so dass sich für die Haushalte zusammen mit dem Plus von 1,6 Prozent bei der Beschäftigung ein reales Lohnplus von rund zwei Prozent ergibt. Das ist nicht viel, aber immerhin viel mehr als in den vergangenen Jahren. Die real verfügbaren Haushaltseinkommen dürften sogar stärker gestiegen sein – weil die Gewinne gut laufen. Mit anderen Worten, die Voraussetzungen für mehr Dynamik beim privaten Verbrauch sind ganz gut und dürften sich, wie die Umfragen belegen, zudem weiter verbessern.

Insgesamt basiert der Konjunkturaufschwung auf einer soliden Zunahme der inländischen Nachfrage und kann von daher für’s Erste nicht durch ein Anziehen der geldpolitischen Zügel abgewürgt werden. Die EZB hat hier einigen Spielraum.

Am Aktienmarkt hat sich erneut eine Blase gebildet. Die europäischen Aktienkurse sind seit dem konjunkturellen Tiefpunkt im Frühjahr 2009 im Jahresdurchschnitt um 8,1 Prozent gestiegen, mehr als doppelt so rasch wie das nominale Sozialprodukt. Auch Indikatoren wie das Verhältnis Kurs zu Gewinn oder Kurs zu Buchwert bewegen sich inzwischen in lichten Höhen. Erneut stößt zu viel Liquidität auf ein begrenztes Angebot an Aktien. Dabei sind die Schulden des privaten nicht-finanziellen Sektors im Verhältnis zum nominalen BIP immer noch fast genauso hoch wie zu Beginn der Finanzkrise (s. meinen Investment Outlook vom 29. August, Grafik nach Ziffer46). Blasen sind immer dann gefährlich, wenn sie großenteils kreditfinanziert werden: Ein anfänglicher Kursverlust beschleunigt sich, wenn die Nettoposition der Anleger ins Negative rutscht und Verkäufe ausgelöst werden, damit die Zahlungsfähigkeit gewahrt bleibt. Wenn es so weitergeht wie 2007/2009, könnte es zu einem Rückschlag von rund 50 Prozent kommen – dann hätten wir die nächste Finanzkrise und die nächste Rezession.

Vor allem können dann nicht mehr die Zinsen gesenkt werden. Sie sind ja immer noch bei Null, und viele Spielräume bei den Anleihekäufen hätte die EZB auch nicht mehr. Höhere Leitzinsen sind daher aus Vorsichtsgründen dringend erforderlich. Besser vorbeugen als im Nachhinein die Scherben aufsammeln und zusammenkleben.

Weiterhin: Für die Stabilisierung der europäischen Banken ist nichts so wichtig wie eine auskömmliche Zinsmarge, also die Differenz zwischen den Erträgen auf der Aktivseite und den Refinanzierungskosten der Passivseite. Je niedriger das Zinsniveau, desto flacher ist die sogenannte Zinskurve und desto geringer ist die Zinsmarge. Im Vergleich zu den amerikanischen Großbanken sind die europäischen immer noch stark angeschlagen, vor allem die deutschen. Sowohl bei der Deutschen Bank als auch bei der Commerzbank sind die Buchwerte mehr als doppelt so hoch wie die Marktkapitalisierung – die Anleger fassen sie nur mit spitzen Fingern an. Damit eine nachhaltige Sanierung gelingt, müssen die Leitzinsen deutlich steigen. Das gilt auch für die Lebensversicherungen. Für die EZB ist die Gesundheit des Finanzsystems eher noch wichtiger als die Inflation auf ihre Zielmarke von 1,8 Prozent zu treiben. Über diesen Aspekt lässt sich Mario Draghi bei seinen Pressekonferenzen nie aus – sollte er aber.

Daniel Gros hat in seinem Blogpost bei Project Syndicate (Central Bankers‘ Shifting Goalposts) am 6. September darauf hingewiesen, dass es im Euroraum bezüglich der Inflation und der Realwirtschaft schon einmal eine Situation gab, die mit der heutigen vergleichbar war, nämlich vor und zu Beginn der Währungsunion. Die Inflationsrate lag damals bei ein Prozent, heute bei 1,5 Prozent; die Arbeitslosenquote 1999 bei 9,5 Prozent, heute 9,1 Prozent; die Zuwachsrate des realen BIP betrug damals drei Prozent, gegenüber zwei Prozent heute. Aber die Reaktion der EZB darauf war damals diametral anders: Von 1999 bis Ende 2000 hatte sie den Leitzins von 2,5 Prozent auf 4,75 Prozent erhöht, während sie ihn jetzt möglicherweise bis 2019 bei null zu lassen plant, fünf Jahre lang.

Niemand weiß, wo der optimale Leitzins liegt. Sicher ist nur, dass das nicht bei null ist. Eine Art natürlicher Zins ist, überschlägig gerechnet, das Produkt aus der mittelfristigen Inflationsrate von, sagen wir, 1,8 Prozent und der trendmäßigen Zuwachsrate der Produktivität von mindestens 0,5 Prozent (in Deutschland eher knapp unter ein Prozent). Das ergibt einen Wert von etwa drei Prozent. Zu Beginn der Währungsunion entsprach das etwa dem Leitzins, wenig später war dieser sogar ein Stück höher. Was hat sich in der Analyse der EZB in den 18 Jahren seither so dramatisch verändert?