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Aktien: sell in May and go away

 

Wäre ich vorsichtig, hätte ich ein Fragezeichen hinter die Überschrift gesetzt. Ich habe es gelassen, weil ich überzeugt bin, dass die Märkte ein paar schwierige Monate vor sich haben und ich nicht herumeiern möchte. Es ist an der Zeit, Gewinne mitzunehmen, jedenfalls keine neuen größeren Engagements einzugehen. Wie die Zahlen der folgenden kleinen Tabelle zeigen, haben die Aktienkurse seit Jahresanfang fast durchgängig stark zugelegt, deutlich mehr als das nominale BIP der jeweiligen Länder, und sie sind nach den Kriterien „Kurs-Gewinnverhältnis“ und „Kurs-zu-Buchwert“ (mit Ausnahme der italienischen) überhöht.

Tabelle: wichtiger Aktienmärkte im Überblick

Hinzu kommt, dass es im Handelsstreit zwischen den USA und China nicht nur um Zölle geht, sondern inzwischen um etwas strategisch viel Wichtigeres – welches Land technologisch die Maßstäbe setzt und damit in ökonomischer und militärischer Hinsicht dem Rest der Welt überlegen ist. Durch bilaterale Handelsgespräche oder eine Abwertung des Yuan lässt sich diese Konfrontation nicht aus der Welt schaffen. Es geht darum, dass die USA den Niedergang ihrer Vorherrschaft verhindern wollen, während Chinas Regierung fest entschlossen ist, global die technologische Führung zu übernehmen. Aus dem Handelskrieg ist ein Technologiekrieg geworden. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Für die Aktienmärkte sind das keine erfreulichen Aussichten.

Die Kurse liegen immer noch in der Nähe ihrer historischen Tops, und der kleine Ausverkauf in der vergangenen Woche mag nicht viel bedeuten. Die wirtschaftliche Lage in Amerika, Großbritannien, in der Schweiz, in Deutschland, China und auch in Japan ist nach wie vor erfreulich, es herrscht mehr oder weniger Vollbeschäftigung, nur: Besser kann es kaum mehr werden.

Dass das Volumen des Welthandels nach der jüngsten Prognose der OECD in diesem Jahr gegenüber 2018 nur um 2,1 Prozent zunehmen wird und damit halb so rasch wie im Vorjahr, sowie, sehr ungewöhnlich, deutlich langsamer als das reale BIP der Welt (3,2 Prozent), wird von manchen Analysten als ein schlechtes Omen gewertet. In der Vergangenheit übertraf die Zuwachsrate des Welthandels die des globalen BIP im Durchschnitt um das 1,8-fache. Da es bisher eine sehr stabile Korrelation zwischen Welthandel und Aktienkursen gab, kommt aus dieser Richtung zunehmend Gegenwind. Hauptleidtragende waren zuletzt die Märkte der meisten Schwellenländer. Sie sind dem Auf und Ab des Welthandels mehr ausgesetzt als die USA, die Europäische Währungsunion, der Rest der OECD oder China.

Wenn man die Tabelle etwas genauer studiert, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass insbesondere die amerikanischen Aktien überteuert sind. Nicht nur liegt ihr Börsenwert um rund das 3,5-fache über ihrem Buchwert – im internationalen Vergleich ein Extremwert –, auch die Dividendenrendite ist sehr mickrig. Langlaufende Treasuries verzinsen sich im Durchschnitt um Einiges besser als Aktien, und da die amerikanischen Inflationserwartungen wegen der längst nicht mehr so guten Konjunkturaussichten neuerdings im Sinkflug sind, können Anleger bei den Festverzinslichen der US-Regierung weiterhin sogar mit Kursgewinnen rechnen. Nach diesem Kriterium schneiden übrigens auch chinesische Aktien nicht so gut ab.

Alle anderen Aktienmärkte der Tabelle weisen Dividendenrenditen auf, die deutlich höher sind als die Bondrenditen. In Deutschland und Frankreich beträgt die Differenz etwas mehr als drei Prozentpunkte, in der Schweiz und Großbritannien sind es rund vier Punkte. Das sind dicke Risikopuffer. Hinzu kommen relativ moderate Kurs-Buchwertrelationen – mit anderen Worten, die Gewinnerwartungen sind nicht so übertrieben.

Da liegt es nahe, aus amerikanischen (und vielleicht aus chinesischen) Aktien in europäische und japanische Aktien umzuschichten. Die vorletzte Spalte der Tabelle zeigt aber, dass die US-Märkte so groß sind wie der Rest der Welt zusammengenommen, wenn nicht sogar größer, so dass eine Schwäche dort auf alle anderen Märkte ausstrahlen dürfte. Daher mein Vorschlag, erst einmal abzuwarten, wie es in den Vereinigten Staaten weitergeht. Anleger stehen zurzeit nicht unter Handlungsdruck.