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Rezession und überbewertete Aktien – ein gefährlicher Mix

 

Bisher ist der Rückschlag am deutschen Aktienmarkt zwar heftig, nämlich etwa fünf Prozent vom letzten Hoch Anfang Juli, aber im Vergleich zu manchen Crashs der Vergangenheit noch nicht besonders groß. Auf der folgenden Grafik lässt er sich praktisch nicht erkennen. Die Marktkorrekturen der Jahre 2018, 2015, 2011, 2008 oder März 2000 bis März 2003 waren jeweils um Einiges größer. Jedoch haben wir es diesmal, wie 2008, gleichzeitig mit einer Rezession zu tun, also wahrscheinlich mit einem starken Rückgang der Gewinne sowie demnächst auch mit Kürzungen der Dividenden. Es wird diesmal nicht leicht fallen, Gründe für eine rasche Erholung der Kurse zu finden.

Grafik: Aktienmärkte und Rezessionen

Wenn man eine Rezession als eine Zeit definiert, in der reales BIP und Industrieproduktion deutlich langsamer zunehmen als das mittelfristige Produktionspotenzial, begann die jetzige im Sommer 2018. Seitdem hat sich die Outputlücke sehr vergrößert. Im Juni lag die Industrieproduktion um nicht weniger als sechs Prozent unter ihrem Vorjahresniveau. In den vergangenen zehn Jahren hatte sich der Arbeitsmarkt als sehr robust erwiesen – Konjunkturdellen hatten ihm nichts antun können. Diese erfreuliche Phase scheint jetzt erst einmal vorüber zu sein. Es wird ernst. In der Industrie breitet sich Panik aus.

Vor allem ist nicht zu erkennen, wie sich die Dinge zum Besseren wenden könnten. Das Volumen der Auftragseingänge im Verarbeitenden Gewerbe hatte zwar im Juni gegenüber Mai zugenommen, weil Ausländer offenbar noch schnell deutsche Waren bestellt hatten, weil sie befürchten, dass es demnächst Handelsbeschränkungen geben könnte. Im zweiten Quartal waren die Aufträge insgesamt jedoch um fast sechs Prozent niedriger als vor einem Jahr. Andere konjunkturelle Frühindikatoren wie das ifo-Geschäftsklima oder die Umfragen der EU-Kommission weisen ebenfalls klar nach unten. Bevor sich die Lage verbessert, wird sie sich erst einmal verschlechtern.

Anleger sind stark verunsichert. Ablesen lässt sich das etwa am rapiden Anstieg des Goldpreises oder an der Flucht in vermeintlich sichere Staatsanleihen: Im Verlauf des Jahres ist die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen von 0,22 Prozent auf -0,57 Prozent gesunken. In der Schweiz beträgt die Rendite sogar nur -0,96 Prozent! Überall auf der Welt boomen die Bondmärkte, weil erneut Rezessionen und Deflation drohen. Da ist es erstaunlich, dass sich die Aktienmärkte bisher ganz gut halten. Offenbar wird allgemein erwartet, dass die Wirtschaftspolitiker die Mittel und den Willen haben, das Schlimmste zu verhindern.

Angesichts der vielen Risikofaktoren sieht das nach Wunschdenken aus:

  • China und die USA, nach Kaufkraftparitäten die zwei größten Volkswirtschaften, befinden sich in der Frühphase eines Handels- und Technologiekriegs, der die internationale Arbeitsteilung auf kostspielige Weise zu beeinträchtigen begonnen hat;
  • wenn Trump weiter Druck auf China macht, könnte das einen Abwertungswettlauf auslösen (bei dem es nur Verlierer geben würde); erste Anzeichen gab es in den vergangenen Tagen, als China durch Dollarkäufe den Yuan von seinem durchschnittlichen Juliwert von 6,90 pro Dollar auf jetzt 7,05 fallen ließ;
  • in Europa droht ein chaotischer Austritt Großbritanniens aus der EU; auch er wird traditionelle Handelsbeziehungen zerstören und Unternehmen zwingen, Kapazitäten stillzulegen;
  • die Verschuldung des privaten Sektors war nach der großen Rezession von 2008/09 in den meisten Ländern nur vorübergehend zurückgegangen; inzwischen sind die Schulden in Relation zum Sozialprodukt fast wieder so hoch wir vor der Rezession – in Frankreich und vor allem in China sind sie sogar wesentlich höher; sollten die schuldenfinanzierten Assetpreise eines Tages einbrechen, erzwingt das zwangsläufig ein sogenanntes Deleveraging, den Versuch, die Schulden durch Sparen zu vermindern, was wiederum direkt in die Rezession führt;

Grafik: Verschuldung des privaten nicht-finanziellen Sektors

  • viele europäische Banken stehen auf wackligen Füßen: niedrige Zinsmargen und ein beträchtliches Volumen notleidender Kredite machen ihnen zu schaffen; nach japanischem Modell werden sie allein durch die expansive Politik der EZB am Leben gehalten; wie sehr Anleger Banken misstrauen, zeigt sich daran, dass deren Marktkapitalisierung vielfach kaum halb so hoch ist wie ihr Buchwert;
  • in der Autoindustrie, im Einzelhandel, im Finanzsektor, in der Touristik, in den Medien und in zahlreichen anderen Bereichen der Wirtschaft nimmt die digitale Revolution weiter Fahrt auf; die Umstellung auf neue Geschäftsmodelle und Strukturen hat nicht nur Vorteile, sondern führt auch zu erheblichen Reibungsverlusten.

All dies ist den Marktteilnehmern seit einiger Zeit bekannt. Erfahrungsgemäß wird allerdings nicht aus jedem Risiko ein echtes Problem, und sowohl die Politik als auch die Märkte entwickeln Gegenkräfte, wenn nur der Handlungsdruck groß genug ist. Außerdem hatte der Internationale Währungsfonds noch vor wenigen Wochen vorhergesagt, dass das reale BIP der Welt in diesem Jahr auf der Basis von Kaufkraftparitäten für 2019 eine Zuwachsrate von 3,2 Prozent vorhergesagt – das ist zwar so niedrig wie seit 2009 nicht mehr, aber keine Katastrophe.

Ein Risiko, das bisher noch nicht ernst genommen, oder sogar gar nicht gesehen wurde, ist, dass wir es an den Bondmärkten mit einer Blase zu tun haben dürften. Blasen platzen! Die dreißigjährige Rallye hat uns inzwischen extreme Kurse beschert. Die Marktsensation war in den vergangenen Tagen die 100-jährige Anleihe der Republik Österreich, deren Kurs stärker gestiegen war als einst die Kurse der Wunderaktien aus dem Silicon Valley.

Die Anleger tun zurzeit so, als könnten die Renditen nur weiter sinken, so wie sie bis 1981 daran geglaubt hatten, dass die Inflationsraten und die Bondrenditen nur steigen konnten. Das hatte sich damals als teure Fehleinschätzung erwiesen. Was also, wenn wir erneut an so einem Wendepunkt wären und die Inflation von nun an jahrzehntelang zunehmen würde, vielleicht als Folge einer Einigung im chinesisch-amerikanischen Handelskrieg, einer global zunehmend expansiven Finanzpolitik, eines gütlichen Brexit, oder weil es gelingt, das europäische Bankensystem zu stabilisieren? An Liquidität fehlt es ja nicht, und die Zentralbanken haben zudem signalisiert, dass sie ein Überschießen ihrer Inflationsziele zulassen werden, als Ausgleich für die langen Jahre des Unterschießens.

Am Ende könnte es zu einer Renaissance steigender Inflationsraten und Leitzinsen kommen. Das mag im Augenblick weit hergeholt klingen, sollte aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Jedenfalls würden in einem solchen Szenarium nicht nur für die Rentenmärkte, sondern auch für die Aktienmärkte schwere Zeiten anbrechen.