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Alice im Wunderland

 

Ein Kommentar aus der ZEIT Nr. 24 von morgen, Donnerstag, 5. Juni:

Wenn eine Freiheitskämpferin wie Alice Schwarzer plötzlich Verständnis für eine Militärjunta aufbringt, wird man stutzig. Die Generäle in Birma, schreibt Schwarzer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, misstrauten »zu Recht der Großmut und dem Pflichtgefühl der internationalen Gemeinschaft«.
Denn in dem Druck auf das Regime, Helfer ins Land zu lassen, damit nicht weitere Hunderttausende an den Folgen des Zyklons sterben, sieht Schwarzer finstere Motive am Werk. Unter dem Vorwand der Hilfe gehe es um einen neuen Kolonialismus: »Versteht sich, dass das kleine Myanmar schon längst vom mächtigen Westen im Namen der Menschenrechte und Demokratie ›befreit‹ worden wäre, würde das mächtige China nicht die Faust darüber halten.« Sicher, auch China verfolge eigene Interessen, gesteht Schwarzer zu. Aber im Vergleich zum westlichen Neoimperialismus, der »einst ehrenwerte Begriffe wie Menschenrechte oder Demokratie« vorschiebt, sei Chinas brüderliche Hilfe das kleinere Übel.
Das Technische Hilfswerk und die GTZ mit ihren Wasseraufbereitungsanlagen als Vorboten eines neuen Kolonialismus? So stellt es gern die Regierungspropaganda der Generäle dar. Deutschlands bekannteste Frauen- und Menschenrechtlerin sekundiert. Wie bitte?
Sie sei viel gereist in dem Land und habe »nie Hunger oder wirkliches Elend gesehen«. Erst in den letzten Jahren, mit der Öffnung für westliche Reisende, »tauchten erste bettelnde Kinder auf: angefixt von Kugelschreiber und Kyats verteilenden Touristen«. Nicht die korrupten Generäle mit ihrem absurden Unterdrückerregime, nein, der Westen ruiniere das »versunkenschöne Land«.
Alice Schwarzers Zwischenruf erinnert an Peter Handkes Reiseberichte aus Jugoslawien – schillernd zwischen Eingeborenenkitsch (»goldhäutig und heiter«) und westlichem Selbsthass, voller Hohn auf Menschenrechte und Demokratie als Alibi der Machtpolitik.
Aus dem Text spricht eine tiefe Verzagtheit, eine Verunsicherung im Herzen des Westens. Was taugen unsere Werte, wenn unsere Politik sie oft genug selbst unterminiert? Sind sie überhaupt für alle Welt geeignet? Und wie können wir für sie eintreten, ohne sie zu beschädigen? Nach einem Jahrzehnt des Interventionismus von Bosnien über Afghanistan bis Irak wachsen die Zweifel. Und sie sind weiß Gott berechtigt.
Doch das hehre Prinzip der Nichteinmischung, zu dem sich Alice Schwarzer bekennt, ist den modernen Autokraten und Tyrannen nicht ohne Grund heilig. In Russland dient es dazu, unbehelligt von der Weltöffentlichkeit Morde an Journalisten zu vertuschen. China benutzt es zur Rechtfertigung der Abriegelung Tibets. Und in Iran findet eine beispiellose Repression der Opposition in seinem Schatten statt. Viele der Opfer des Teheraner Re­gimes sind übrigens Feministinnen. In Iran sind die Gefängnisse voll mit Frauen, denen man vorwirft, unter dem Vorwand der Menschenrechte einen samtenen Umsturz zu planen. Dass sie mit westlichen Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen zusammenarbeiten, reicht schon für die Verhaftung. Ist Alice Schwarzer, die nicht müde wird, die Geschlechter-Apartheid in der islamischen Welt anzuprangern und den Westen zu mehr Druck aufzufordern, auch hier »strikt gegen jegliche westliche Intervention«? Den Feminismus lehnen die Islamisten übrigens mit den gleichen Argumenten ab, die Schwarzer im Fall Birmas geltend macht: Eine (unmoralische) westliche Lebensweise solle den Muslimen unter dem Deckmantel der Menschenrechte aufgedrückt werden.
Es ist aber gar nicht (mehr) der Westen, der die zivile Unruhe in die Autokratien trägt, wie etwa der Mönchsprotest in Birma letzten Herbst gezeigt hat. Das Regime möchte es zwar so erscheinen lassen. In Wahrheit stehen die Machthaber vor dem Problem, dass kein Mensch gern Stiefel im Gesicht hat.
Die Politik des Demokratieexports durch verdeckte Operationen und gewaltsam herbeigeführte Regimewechsel ist gescheitert. Was nun? Raushalten? Zurückziehen und schuldstolze Selbstanklage? Ist das nicht in Wahrheit nur die depressive Kehrseite des kolonialen Auftrumpfens von einst? Genauso narzisstisch-selbstbezogen wie in den Zeiten imperialer Träume. Wieder sind die anderen nur Objekte. Wenn der Westen schon nicht mehr bestimmen kann, wo es lang geht, dann will man wenigstens schuld an allem sein.
Selbsthass kann genauso blind machen wie Sendungsbewusstsein. Die wahre Frage lautet: Wie kann der Westen nach dem Ende seiner Dominanz noch für seine Werte eintreten, ohne in Überheblichkeit oder Appeasement zu verfallen – prinzipienfest, aber nicht auftrumpfend, lernbereit, doch ohne Kotau?