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Amerikanisches Krisentagebuch (2)

 

Heute sprach in der Kennedy School of Government der Ex-Senator Sam Nunn (D), ein von beiden politischen Lagern hoch respektierter weiser Mann der Aussenpolitik.

Er kämpft mit den Aussenministern Kissinger, Shultz und Perry für die nukleare Abrüstung. Noch vor wenigen Jahren wären weniger berühmte Menschen für eine solche Initiative als linke Spinner abgetan worden.

Jetzt sind es die weisen alten Männer, die dem Irrsinn nicht länger zuschauen wollen (Amerika hat ca. 7500 strategische Atomwaffen, die in 15 Minuten eingesetzt werden können, Rußland kaum weniger).

Im Publikum sitzt ein noch viel älterer Mann mit schütterem Resthaar, sehr fragil – der 92jährige Aussenminister Kennedys und Johnsons, Robert McNamara. Er war die Hassfigur der Antivietnamkriegsbewegung. Heute ist er einer der entschiedenen Befürworter von Abrüstung und Entsppannungspolitik.

Nunn sagt, wir müssen mit den Russen enger zusammenarbeiten. Wir hätten nicht die NATO, sondern die EU erweitern sollen. Wir hätten Putins Angebot zu einem gemeinsamen Raketenschild annehmen sollen. Wir werden nichts gegen die iranische Rüstung erreichen, sagt er, wenn wir nicht mit Chinesen und Russen und den Nationen Südostasiens zusammenarbeiten. Er rät davon ab, von einer NATO-Aufnahmen Georgiens und der Ukraine zu reden: „Wir Amerikaner haben verlernt, zwischen unseren vitalsten und bloß lebendigen Interessen (vital and vivid) zu unterscheiden.“

Soll heißen: Die Russen nicht mit Georgien und Ukraine ärgern, wenn man sie zugleich zum Abrüsten und bei der Front gegen Iran braucht. Und im übrigen solle Amerika endlich mit dem Iran verhandeln: „Wir bestrafen sie nicht dadurch, dass wir nicht mit ihnen reden.“

McNamara sekundiert: „Das ist genau das, was dieses Land jetzt hören muß!“

Etwas dreht sich hier in Amerika.

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Als ich in der edelsten Wohngegend Bostons – Back Bay – vom Rad steige, sagt eine Passantin: Hey, very green! Das ist anerkennend gemeint. Dass jemand in Anzug und Krawatte auf dem Fahrrad herumfährt – in Amsterdam oder Berlin eine Normalität, ist immer noch ein Kuriosum hier.

Aber nicht mehr lange, wenn es so weitergeht. Detroit verkauft in diesem Jahr 30 % weniger Autos als im Vorjahr. Manche Leute kaufen nicht nur kein Neues, sondern geben ihr Auto ab und steigen aufs Fahhrad um.

An diesem Tag ist der Dow wieder um mehr als 700 Punkte gefallen. Im Goethe-Institut hält ein Club von Geschäftsleuten, die zwischen Amerika und Deutschland Handel treiben, eine Debatte vor dem letzten Treffen Obama-McCain ab.

Ich soll ein Statement über die deutsche Wahrnehmung der Wahl abgeben. Mein Kommentar fällt ziemlich herbe aus, weil ich all die erschreckenden Zahlen über den Ansehensverlust Amerikas in den letzten Jahren runterzitiere.

Ich habe zeitweilig das Gefühl, ein bisschen zu weit zu gehen. Doch nachher bedanken sich einige Leute dafür. Noch so ein unwahrscheiliches Verdienst von George W. Bush: Er hat mit seiner Hybris eine seit dem Ende des Vietnamkrieges nicht mehr dagewesene Welle der Selbstkritik eingeletet.

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Haili Cao ist eine Kollegin aus Peking, die in diesem Jahr das renommierte Nieman-Fellowship für Journalisten inne hat. Sie hat die amerikanische Wahl ein bisschen über, sagt sie. Zur Abwechslung reden wir über China. Sie beklagt sich scherzend über einen Schweizer Kollegen, der sie immer wieder fassungslos bedrängt, dass die Chinesen sich nicht mehr über ihr Regime aufregen und mehr Demokratie verlangen.

„Er will einfach nicht verstehen, dass wir anders sind!“ Es muss merkwürdig für Haili sein, sich dauernd für ihr Land rechtfertigen zu müssen. Aber da sind die Ereignisse der letzten Wochen sicher eine Erleichterung: Denn nachdem die Finanzkrise offen gelegt hat, wie sehr die USA von China abhängen, wird sich der Ton doch sehr mässigen.

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Beim Essen erzählt eine italienische Kollegin hier am Institut, die eigentlich in Washington Jura unterrichtet, dass all ihre Kollegen in D.C. plötzlich riesige Löcher in ihren Pensionsplänen haben: „Einer hat 30.000 Dollar verloren, ein anderer Hunderttausend. Die rechnen jetzt schon, wieviel länger sie vielleicht arbeiten müssen, um das wieder wettzumachen.“

Für Eltern bedeutet die Kreditkrise, dass sie nicht wissen, wie sie die College-Kosten ihrer Kinder aufbringen sollen. Das läuft hier nämlich auch oft über Darlehen, und die werden teurer (oder sind gar nicht mehr verfügbar). Harvard kostet pro Jahr derzeit 52.000 Dollar. Das ist ein Spitzenpreis, aber an der weniger renommierten Boston University sind es auch 48.000 Dollar. Die gebührenfreien, aber auch entsprechend dürftiger ausgestatteten staatlichen Unis haben im laufenden Jahr bereits 4 Prozent mehr Zulauf.

Der Staat kommt wieder, mit mächtigen Schritten.