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Amerikanisches Krisentagebuch V

 

Krise? Welche Krise? Die Euphorie hält an. „Ich freue mich schon auf meinen nächsten Besuch in Europa“, sagt Paul, ein Kollege am Center for European Studies, der oft in Frankreich zu tun hat. „Endlich kann man wieder stolz sein, Amerikaner zu sein. Und man braucht sich nicht dauernd für seine Regierung zu entschuldigen.“ Mir geht es genauso: Endlich kann man wieder zu Amerika stehen, ohne sich erst langwierig für den Irrsinn der Bushies entschuldigen zu müssen. (So jedenfalls die Hoffnung.) Merkwürdig, sagt Paul: Zuvor sei es unmöglich gewesen, über Rassismus in Amerika zu reden. Und auf einmal reden alle darüber, als wäre es die einfachste Sache der Welt.

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Jon Stewart berichtet in seiner Daily Show, dass in New York die Menschen einander zuzwinkern und sich bestätigend zunicken. Er findet das offenbar sehr irritierend: „Demnächst wird man noch von wildfremden Leuten zum Pie-Essen eingeladen!“ In Boston war es gestern genauso. Autos halten neben einem an, und die Leute lächeln einen einfach nur irgendwie erlöst an. Oder irgendjemand ruft: „Obama! We did it!“

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Auf Fox News beginnen die Zersetzungserscheinungen in der besiegten Partei. Jemand aus der McCain-Kampagne hat einem Fox-Reporter erzählt, Sarah Palin sei noch viel ahnungsloser, als man gedacht habe. Sie habe immer von Afrika als einem Land gesprochen, und es sei ihr offenbar nicht klar gewesen, dass es sich um einen Kontinent mit vielen Nationalstaaten handele. Ausserdem sei sie unberatbar gewesen und hätte sich trotz dringender Bitten nicht auf das Interview mit CBS-Reporterin Katie Couric vorbereitet, das dann ja auch zum Desaster wurde.

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Es war heute nicht möglich, eine Tageszeitung zu bekommen. Um 10 Uhr waren alle Ausgaben ausverkauft. Die Menschen bunkern diese Ausgaben als historische Dokumente.

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Auf allen Fernsehkanälen gibt es plötzlich schwarze Gesichter in großen Mengen zu sehen: schwarze Politiker, Künstler, Bürgerrechtler werden rauf und runter interviewt und sollen ihre Rührung in Worte fassen. Und irgendwoher hat man auch still und leise eine ganze Armee schwarzer Reporter und Experten rekrutiert. Eine eigene schwarze Comedy-Show gibt es auch schon, die den ganzen Wirbel auf die Schippe nimmt: Chocolate News bei Comedy Central. Der sehr witzige David Alan Grier endete heute auf dem schönen Reim: from cotton picking in the sun to flying on Airforce One.

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Tom Friedman in der New York Times hat den Buffett-Effekt entdeckt, der den befürchteten „Bradley-Effekt“ konterkariert hat: Weisse Wähler im Süden, die den Kollegen beim Country-Club-Grill erzählen, sie würden McCain wählen, und dann aber doch für Obama stimmten, obwohl sie wussten, dass das höhere Steuern bedeuten würde. „Why? Some did it because they sensed how inspired and hopeful their kids were about an Obama presidency, and they not only didn’t want to dash those hopes, they secretly wanted to share them. Others intuitively embraced Warren Buffett’s view that if you are rich and successful today, it is first and foremost because you were lucky enough to be born in America at this time — and never forget that. So, we need to get back to fixing our country — we need a president who can unify us for nation-building at home.“

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George Bush wirkte bei seinen Gratulationsworten mekwürdig eingefallen und dehydriert. Kein Wunder nach den schrecklichen letzten Wochen, die den Rest seines Ansehens zerstört haben. Aber auch in seinen wenigen Worten war dann wieder etwas von der Großzügigkeit und einnehmenden Art Amerikas zu spüren, als er sinngemäß sagte, Obamas Sieg sei ein eindrücklicher Beweis für die Vitalittät der amerikanischen Demokratie. Der Abgewählte grüßt den Sieger, den ersten schwarzen Präsidenten, als Beweis dafür, dass Amerika auf dem Weg zu einer „more perfect union“ sei. Was für ein Land!