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Amerikanisches Krisentagebuch VIIII

 

Mein Nachbar gesteht mir nach Wochen, in denen man ihn kaum zu Gesicht bekam, dass er gefeuert wurde. Er war vier Jahre lang bei einer grossen Firma angestellt, die vor allem für das Verteidigungsministerium arbeitet. Im Staat Massachusetts wird erwartet, dass bis 2010 weitere 150.000 Jobs verloren gehen. Mein Nachbar gibt sich optimistisch. Er habe schon verschiedene Angebote. Aber es ist klar, dass dies eher schlechter bezahlte und unsichere Jobs sein werden.
Joe der Klempner, das Wahlkampfmaskottchen von John McCain, hat hingegen einen Vertrag über ein Buch an Land gezogen. Man kann es hier vorbestellen.

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Am Harvard Square, dem Herzen von Cambridge, wird „Out of Town News“ geschlossen – ein wunderbarer Kiosk mit internationalen Medien. Der Kiosk war seit vielen Jahrzehnten  eine Institution des geistigen Lebens in Harvard, ein Symbol der Weltoffenheit. John Kenneth Galbraith kaufte hier einst täglich „Le Monde“. Hier konnte man einfach alles bekommen, von afrikanischen Tageszeitungen bis zu deutschen Monatszeitschriften. Der Umsatz war in den letzten Jahren immer mehr zurückgegangen. Und die aktuelle Krise gibt dem angekränkelten Unternehmen den Rest. Das Internet trägt eine gewisse Mitschuld. 

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In der Kennedy School spricht John Lewis, der legendäre Abgeordnete aus Georgia, der noch mit Martin Luther King marschiert ist. Man begrüßt ihn mit stehenden Ovationen. Ein „wahrer amerikanischer Held“. „Ich weiß, dies ist ein akademisches Umfeld. Ich will mich bemühen, ruhig und gesetzt zu sprechen. Aber versprechen will ich Ihnen lieber nichts.“ Und dann hält er eine begeisternde Rede – besser gesagt Predigt – über den historischen Schnitt, den die Wahl Obamas für ihn bedeutet. Er erzählt von den freedom rides, an denen er teilgenommen hat, und von den Märschen in Selma, Alabama. Damals ging es darum, das formale Recht der Schwarzen im Süden tatsächlich durchzusetzen, an Wahlen teilnehmen zu dürfen. Drei Mal marschierten die Bürgerrechtler gewaltlos in Selma, um die Diskriminierung schwarzer Wähler anzuprangern und ihr Recht auf Registrierung zu erreichen. Sie wurden brutal zusammengeknüppelt. Wenn John Lewis von diesen Taten erzählt, die schon vier Jahrzehnte zurückliegen, ist das plötzlich alles nicht mehr so weit weg. Seine Stimme überschlägt sich, wenn er sagt: „Those same hands that used to pick cotton and peanuts in the South have elected Barack Obama the president. If somebody had told me then that I would live to see the day that this country would lay down the burden of race…“

Die Bürde der Rasse ablegen – das ist ein sehr treffendes Bild dafür, was mit diesem Land gerade passiert.  Ein junger weisser Mann, erzählt John Lewis, habe ihn kürzlich in Alabama spontan umarmt: „Congressman, the Civil War is over!“

Lewis endet seinen Vortrag mit den Worten: „Weisse und Schwarze sind auf verschiedenen Schiffen in dieses Land gekommen, doch jetzt sitzen wir im selben Boot.“

Fotos von  oben: Lewis am Boden liegend nach der Polizeiattacke am Bloody Sunday 1965 in Selma. Lewis und der Bürgerrechtler James Zwerg, nachdem sie von einem weissen Mob in Montgomery zusammengeschlagen worden waren. Lewis wird in Montgomery von Polizisten abgeführt. Congressman John Lewis heute.