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Wie Amerika sich in der Krise verändert

 

Ein Vortrag, gehalten in der evangelischen Friedensgemeinde Charlottenburg, gestern am 13. März 2009:

In der Nacht des 4. November fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause. Wir hatten den Wahlabend, an dem der erste schwarze Präsident Amerikas gewählt worden war, im „Center for European Studies“ der Harvard-Universität in Cambridge verbracht. Man hatte bei Wein und Käsehäppchen dem Moment der Wahrheit eitgegengefiebert – nach Monaten eines Nerven zerfetzenden Wahlkampfs. Auf einer Großbildleinwand hatte das gesamte Institut zusammen die historische Nacht verfolgt. Dann kam endlich die Erlösung: Der Sender MSNBC erklärte Obama als erster zum Sieger. Die anderen Sender folgten bald nach.

Auf dem etwa 12 Kilometer langen weg von Cambridge nach Südboston, wo ich wohnte, sah ich Szenen, die ich so noch nie in Amerika erlebt habe: Spontane Autokorsos hatten sich gebildet und fuhren laut hupend über die Brücken des Charles River. Trotz klirrender Kälte waren überall Menschen auf den Straßen um zu feiern. Auf dem Universitätscampus fand sich spontan eine Blaskapelle begeisterter Studenten zusammen, die die Nationalhymne anstimmten – das Star Spangled Banner. Immer wieder kamen mir Passanten entgegen, die mich einfach beseelt anlächelten. Es war, als wäre eine tonnenschwere Last von den Menschen abgefallen. Die ganze Stimmung erinnerte an den Fall der Berliner Mauer. Etwas Neues konnte endlich beginnen.

 

Das war das eine. Doch in den Wochen meines USA-Aufenthaltes kam auch etwas an sein Ende: Jahrzehnte einer beispiellosen ökonomischen Expansion, die von Amerika aus angetrieben wurde, von der wir aber alle profitiert haben.

Ja, der Boom, der seit den Reagan-Jahren die gesamte Welt erfaßt hat, war alles in allem eine gute Zeit – nicht nur für den Westen. In der früher so genannten Dritten Welt konnte eine Mittelklasse aufsteigen, die erstmals Zugang zu Bildung, bescheidenem Reichtum und schließlich auch zu politischer Teilnahme bekam. Vielen Millionen Menschen gelang es, aus Hunger und Subsistenzwirtschaft zu entkommen und ein menschenwürdigeres Leben zu führen. Und hier bei uns in Europa erledigte sich durch den Höhenflug des westlichen Kapitalismus die Systemfrage des Kalten Krieges. Der Kommunismus implodierte – nicht zuletzt, weil er seinen Bürgern keine Lebenschancen bieten konnte wie das Konkurrenzsystem. All das muss man im Blick behalten, wenn man jetzt auf den bösen Kapitalismus zurückschaut aus der Perspektive unserer heutigen Krise.

Als ich in Boston ankam, im September letzten Jahres, da gab es schon eine Immobilienkrise und eine Finanzkrise. Aber man hielt das allgemein noch für lokale, begrenzte  Ereignisse. Sehr bald sollte ich dies als Irrtum erweisen, und damit änderten sich dann auch die Ziele meines Aufenthalts in Harvard.

 

Ich hatte geahnt, dass mein Aufenthalt im Herbstsemester 2008 in Boston eine spannende Sache werden würde. Es stand eine Wahl an, bei der historische Alternativen geboten wurden – ein Vietnamkämpfer gegen den Sohn eines Afrikaners und einer Weissen.

Aber es kam noch toller: Als wäre die Aufregung um die Kandidatur von Barack Obama noch nicht genug, legten meine amerikanischen Gastgeber noch eine Finanzkrise drauf, die sich bald als viel mehr entpuppen sollte – als globale Wirtschaftskrise von immer noch nicht ganz fassbaren Ausmassen.

Wir leben immer noch unter dem Eindruck dieser Krise, deren Endgestalt wir noch nicht ermessen können.

Ich habe ihren Anfang in Amerika erlebt, und diese Erfahrung hat mein Amerika-Bild verändert. Und davon will ich Ihnen hier etwas erzählen.

Ich war Anfang September nach Harvard gekommen, um zwei Projekte zu verfolgen. Erstens wollte ich mir den dort versammelten Sachverstand zunutze machen, um die Zukunft der amerikanischen Aussenpolitik nach George W. Bush zu ergründen. Würden Europa und Amerika wieder zusammenfinden nach den acht Jahren, die das transatlantische Verhältnis schwer belastet hatten? Nach dem Irakkrieg und zuletzt der Krise um die russische Invasion Georgiens?

Zweitens wollte ich ein Thema verfolgen, dass mich seit Jahren beschäftigt: Wie sollen liberale Demokratien damit umgehen, dass die Religion wieder eine öffentliche, oft sehr politische Rolle spielt in den letzten Jahren? Ist es besser, den öffentlichen Raum ganz säkular zu halten, oder sollte man die Religionen einbinden in das Gewebe der Institutionen? Und wie soll man dabei mit der (in Europa) neuen Religion umgehen, dem Islam? Können wir von den Amerikanern etwas lernen darüber, wie Religion das öffentliche Leben prägt – und doch strikt vom Staat getrennt bleibt?

 

Das zweite Thema, obwohl sicher interessant und relevant – habe ich bald aufgegeben, weil die Ereignisse das so diktierten. Fasziniert verfolgte ich den Wahlkampf, der bald von der Krise geprägt wurde. Ich teilte mir in Cambridge ein Büro mit einem portugiesischen Ökonomen, der an einer Arbeit über den Ölpreis im 20. Jahrhundert saß. Nach dem Desaster bei dem Investmenthaus Lehman Brothers fragte ich ihn nach seiner Meinung: Wie schlimm ist das alles? Wie alle seriösen Wissenschaftler wollte er mir nicht eine schnelle Analyse liefern, die ich als Journalist natürlich gerne benutzt hätte. Aber dann sagte er: Was sich hier abspielt, ist nicht bloss eine der üblichen Krisen des Kapitalismus. Das ist eines dieser Ereignisse, nach denen wir die Welt anders sehen. Ein Paradigmenwechsel.

Damit sollte er Recht behalten.

 

In Süd-Boston, wo ich eine Wohnung gefunden hatte für die 4 Monate meines Aufenthaltes, schlug sich die Krise sehr drastisch nieder. Eine Familie, die vor wenigen Jahren erst ein Haus gekauft hatte, konnte seit längerem die Kredite nicht mehr bedienen, die sie zu Irrsinns-Konditionen aufgenommen hatte. Nach längeren Protesten der Anwohner griff die Bank hart durch und ließ die Familie kurzerhand mit Polizeigewalt vor die Tür setzen. Solche Räumungsklagen – Foreclosures – ereigneten sich in Amerika in immer größerer Zahl. Von bis zu 200.000 solchen Fällen im Monat war die Rede. Übrigens: Diese für unser Sozialstaatsempfinden brutale Vorgehensweise sollten wir nicht allzu schnell als „typisch amerikanisch“ abtun: Die Bank im Hintegrund, die den Kredit gewährt hatte und nun die Familie vor die Tür setzte, war keine andere als die grundsolide Deutsche Bank.

 

Ich hatte in meinem Haus einen sehr netten Nachbar mit Namen Joe Zimmerman. Er arbeitete für eine große, weltweit tätige Firme namens General Dynamics. Dieser Konzern übernimmt große Aufträge, vor allem im Rüstungsbereich. Joe war einige Wochen lang nicht zu sehen, was mich sehr wunderte, weil wir uns sonst eigentlich regelmässig über den Weg liefen.

Dann traf ich ihn wieder, und er wollte ein Bier trinken gehen. An diesem Abend eröffnete Joe mir, dass er gefeuert worden war – nach vier Jahren. In der Krise nutzte der Konzern die Gelegenheit, sich von entbehrlichem Personal zu trennen. Und zuerst mussten diejenigen gehen, die zuletzt gekommen waren – also die Jungen. Und die, die keine Familie haben. Joe Zimmerman nahm die Hiobsbotschaft amerikanisch-tapfer auf: Er werde schon etwas Neues finden, alles kein Problem. Aber in Wahrheit musste er sich nun auf Kellnern und einen Aushilfsjob in der Weinhandlung eines Freundes umstellen.

 

Joe wird schon zurecht kommen. Um ihn ist mir nicht bange. Aber was wird aus den Hunderttausenden Arbeitslosen und Enteigneten, die nicht nur für sich selbst zu sorgen haben? Es bahnt sich eine Krise von unabsehbarem Ausmaß an. Wie wird sie die amerikanische Mentalität verändern? Anders gefragt: Wird sie das überhaupt tun? Amerika ist ja im Vergleich zu den europäischen Ländern viel gefestigter in seinen Grundüberzeugungen, in seinen Traditionen, in seiner Ideologie.

Ich habe es seit meinem ersten Besuch in den USA immer für eine Täuschung gehalten, wenn Europäer vom Amerika reden, als wäre dies immer noch „die Neue Welt“. Als könnten wir auf die Amerikaner immer noch wie im 19. Jahrhundert als unsere „jüngeren Geschwister“ herabblicken. Durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat sich nach meiner Überzeugng das Verhältnis eigentlich gedreht: Die Europäer haben tiefe Brüche erlebt, die ihre Gesellschaften von Grund auf erschütterten: Zwei Weltkriege auf eigenem Boden, Revolutionen, Diktaturen, Massenmorde und Vertreibungen von apokalyptischem Ausmaß. Wenig ist geblieben von den Gesellschaftsstrukturen und den Gewißheiten der Welt vor 1914. Und danach wurden manchen Gesellschaften gleich mehrmals hintereinander umgegraben, wie etwa die deutsche.

 

Amerika hingegen blickt auf 233 Jahre Kontinuität zurück in seinem politischen System, in seinen Grundüberzeugungen, und teilweise auch in seinen gesellschaftstragenden Schichten – bei allen Erschütterungen. Amerika ist in Wahrheit heute die Alte Welt, der politische Fels in der Weltgesellschaft. Seine Institutionen sind uralt im Vergleich zu unseren. Dass zum Beispiel der Präsident immer an einem Dienstag im November gewählt wird, und zwar von „Wahlmännern“, hängt mit dem Arbeistrhythmus der Farmer und Plantagenbesitzer zusammen, die einst in der Zeit nach allen Ernten ohne Eisenbahn in die Hauptstadt Washington kommen mußten. Und da einigte man sich eben auf den ersten Dienstag im November. Sonntag war undenkbar als Wahltag, wegen des Kirchganges. Bis Montag war die Anreise nicht zu schaffen, also Dienstag!

Aber nun hat eine große Krise dieses Alte Amerika erwischt, und eine Krise, die die Grundüberzeugungen erschüttert. Was sind das für Überzeugungen? Der Tüchtige ist seines Glückes Schmied. Der Staat soll sich möglichst heraushalten. Individuelle Verantwortung und Selbstgenügsamkeit sind das Fundament einer freien Gesellschaft. Leistung muss belohnt werden. Jeder kann es mit Fleiß schaffen. Optimismus ist erste Bürgerpflicht.

An solche Dinge glauben die Amerikaner, und der Aufstieg Amerikas hat mit diesem Glauben zu tun. Und ich für meinen Teil muß sagen: Das ist es, was mich vom ersten Augenblick meines ersten Besuchs in Amerika für dieses Land eingenommen hat. Ich war immer ein bisßchen neidisch auf diese fröhliche, freundliche, optimistische Selbstgewißheit. Nun aber erscheint sie manchem als Teil des Porblems.

Denn nun sieht sich das Land im Spiegel der Krise, und wenig bleibt übrig von den uramerikanischen Grundannahmen:

Eine ungeahnte Häufung von Unverantwortlichkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft wird offenbar. Es beginnt beim Hauskäufer, der ohne Rücklagen und Eigenkapital eine Schuld übernimmt, die er bald schon nicht mehr tragen kann. Ihm gegenüber ist der skrupellose Immobilienfinanzierer, der ihm den Kredit gewährt – im vollen Wissen, dass er es hier nicht mit einem solventen Schuldner zu tun hat. Es geht weiter mit dem Finanzjongleur, der aus solchen Schuldscheinen hoch profitable Produkte errechnet, die er auf dem internationalen Markt anbietet. Versicherungsspezialisten bieten sich an, die Risiken abzusichern und weltweit zu streuen, bis es ein „todsicheres Geschäft“ ist. Bewertungsagenturen spielen mit, indem sie solchen Geschäften ihren Segen geben. Politiker befördern diesen Irrsinn, weil sie es zur populären Politik erheben, jedermann ein Häuschen zu verschaffen, ohne Ansehen der Liquidität.

Und Journalisten haben die die Dynamik dieses Wachstumsmodells angepriesen und gegen Skeptiker verteidigt, um hier mal etwas gegen meinen eigenen Beruf zu sagen. Am Ende dieser Kette von Unverantwortlichkeiten steht als der Dumme da, wer nicht dabei mitspielt und sich mit mageren Renditen von 5 Prozent bescheidet.

Von ganz unten bis ganz oben reicht die organisierte, sich wechselseitig stützende Unverantwortlichkeit. Es gibt keine Unschuldigen in diesem Drama, niemand ist bloß betrogenes Opfer. Das macht die Krise so tiefgreifend.

Und bei manchem ist sie immer noch nicht richtig angekommen. So mußte ich mich sehr über die Anzeigen des Kaufhauses „Macy’s“ in der New York Times vor Weihnachten wundern. Da redete das ganze Land schon seit Monaten nur noch über die Krise. Und darüber, dass das haltlose Leben einer ganzen Gesellschaft auf Pump so nicht immer hätte weitergehen können. Die Leitartikler schrieben: Wie kann es sein, dass wir so weit gekommen sind? Amerika war einmal ein Land, das tolle Dinge herstellte, sie exportierte und daran reich wurde. Doch heute lassen wir Dinge anderswo herstellen – in Mexico, oder in Asien, und wir kaufen Sie dann auch noch mit Geld, das die anderen, die Araber und die Asiaten uns geliehen haben. Wir (Amerikaner) sind abhängig geworden von anderer Leute Kreativität, Fleiss und gutem Willen.

Jedenfalls: Mitten hinein in diesen lauter werdenden Chor der Kritiker platze diese Anzeigen von Macy’s. Da wurde jeden Kunden versprochen, wenn er Waren von über 2000 Dollar kaufe, werde ihm ein zinsloser Kredit von einem ganzen Jahr eingeräumt. Also: Jetzt die Weihnachtsgeschenke kaufen, nächste Weihnachten erst bezahlen!

Ist das nicht verrückt: Gerade erst hatte man erkannt, dass das haltlose Geldausgeben auf Pump den ganzen Schlamassel verursacht hatte, da warb Macy’s mit neuen haltlosen Krediten. Hatte mit eben diesen Methoden nicht alles angefangen?

Ich habe bei einer kleinen Vortragsreise nach Denver, Dallas und St. Louis vor amerikanischen Geschäftsleuten gesprochen und ihnen versucht zu erklären, warum Europäer und vor allem Deutsche andere Lehren aus der Krise ziehen als Amerikaner. Während man in Amerika zu denken scheint, dass die Klinge, die die Wunde geschlagen hat, sie auch heilen kann – und man auch nun  auf mehr billiges Geld, aufs Ausgeben und Verschulden setzt, sieht man solche Politik auf der anderen Seite des Atlantik skeptisch. Wir kennen alle die Gesichten unserer Eltern und Großeltern aus der Zeit der Inflation, als das Geld nichts mehr wert war. Die Siedlung, in der ich wohne – Eichkamp – ist ein Produkt jener Zeit. Und an der Qualität der Baumaterialien können sie sehen, wie Deutschland damals erwischt worden war, im Jahr 1923. Es gab auf einmal nur noch billigstes Holz für die Dielenböden, die Türen, die Fenster.

Wir alle haben es in Deutschland vor diesem Hintergrund gelernt: Schulden sind etwas tunlichst zu Vermeidendes, um so mehr, wenn es Staatsschulden sind. In meiner Familie –  Bäcker seit Generationen – wurde noch in den Siebzigern mit großen Augen den Kindern erzählt, dass ein Brot in der Infaltion Millionen Reichsmark gekostet hatte.

Es sind diese Hintergründe, erklärte ich meinen amerikanischen Zuhörern, weswegen wir Kreditkarten hierzulande immer noch sehr zögerlich benutzen. In vielen Restaurants in Berlin werden sie zurückgewiesen, ausser dort, wo ciele Touristen verkehren. Viele Kaufhäuser akzeptieren Kreditkarten nicht. Mal eben einen DVD-Player auf Kredit kaufen, das geht bei Media Markt nicht. Und es wäre undenkbar, Kreditkartenschulden von einer auf die nächste Karte umzuschulden, wie man es in Amerika getan hat. Der amerikanische Haushalt hat im Schnitt sage und schreibe 12 Kreditkarten! Die Schulden auf diesen Karten sind übrigens noch gar nicht in die jetzige Krise eingerechnet. Da kommt noch eine weitere Welle auf uns zu.

Undenkbar auch, dass man in Deutchland ein Haus ganz ohne Eigenkapital finanzieren könnte. In Amerika war das zuletzt gang und gäbe.

Und so kam ich in eine merkwürdige Situation: Ich verteidigte in Amerika die vorsichtige europäische Umgangsweise mit Kredit und Schulden, während in den Zeitungen die größten staatlichen Programme aller Zeiten debattiert und verteidigt wurden. Das war im November. Da stand ich, der Reporter einer eher linksliberalen deutschen Zeitung, und erklärte konservativen Geschäftsleuten im Mittelwesten der USA, dass ihre Art zu wirtschaften unseriös sei. Verkehrte Welt!

Mittlerweile hat sich auch unsere Regierung langsam an die amerikanischen Dimensionen herangetastet. Mir bleibt es unheimlich, auch wenn ich keine Alternative sehe. Eine amerikanische Zeitung hat errechnet, dass die gesammelten Rettungspakete und Konjunkturmassnahmen der amerikanischen Regierung folgende Staatsausgaben übersteigen: Das Mondprogramm, den Vietnamkrieg, den Koreakrieg und Roosevelts „New Deal“. Man müßte noch den Zweiten Weltkrieg dazunehmen, um ansatzweise auf die Zahlen zu kommen, die heute als „Stimulus-Paket“ genannt werden. Das ist doch wohl zum Schwindligwerden!

 

Doch nicht nur auf diesen Ebenen des Finanz-, Immobilien- und Versicherungswesens spielt sich die Krise ab. Die amerikanische Autoindustrie wurde voll von der Krise erfasst. Allerdings können die Manager von GM, Chrysler und Ford die Schuld für die Lage ihrer Konzerne nicht einfach auf die widrigen Umstände abwälzen: Es wurde vielmehr eine fatale Managementstrategie offenbar, die viel zu lange auf benzinfressende Riesenautos gesetzt hatte, als gäbe es billiges Öl für alle Zeiten und als hätten die Kosten für den Klimawandel immer nur die anderen zu tragen.

Auch hier offenbarte sich eine geradezu unfaßliche Unverantwortlichkeit. Die meisten Amerikaner, mit denen ich sprach, waren voller Hohn für die unfähigen Chefs, die mutwillig  ihre Unternehmen von Weltführern zu Sanierungsfällen gemacht hatten. Nun, da sie beim Staat um Geld betteln mussten, hatten sie auch noch die Taktlosigkeit besessen, mit privaten Jets in Washington einzufliegen: Bettler in seidener Robe. Aber andererseits verstopften die Riesenungetüme von SUV’s überall in den amerikanischen Städten den Verkehr. Auch hier müssen sich die Bürger und Konsumenten an die Nase fassen, die das Spiel schließlich mitgespielt haben: Die panzerhaften Riesenautos sind ein Symbol für etwas, das am amerikanischen Lebensstil schiefläuft. Sie sind eine umweltpolitische Obszönität, und erst die hohen Benzinpreise haben dafür die Sinne geschärft.

Nicht nur die Manager sind also schuld an der Fehlsteuerung. Aber doch in erheblichem Mass:

Denn die Bettler im Privatjet waren dieselben Herren, die sich vorher jede politische Einmischung Washingtons in ihre Konzernpolitik verbeten hatten. Milliarden hatten sie dafür ausgegeben, die harten Umweltgesetze des größten Staates Kalifornien wieder rückgängig zu machen – anstatt das Geld etwa in die Forschung für umweltschonende Motoren zu stecken. Und nun plädierten sie dafür, dass Steuergelder in Milliardenhöhe benutzt werden sollten, um ihre Fehler auszubügeln. Das Bild des Unternehmer und Managers – in Amerika traditionell positiv besetzt als Leitbild der ganzen Gesellschaft – nahm schwere Schläge hin in  diesen Tagen.

 

Der deutsche Botschafter Klaus Scharioth hielt einen Vortrag in Harvard über die Zukunft des deutsch-ameriknaischen Verhältnisses. Das war kurz vor Obamas Wahl. Scharioth erzählte, noch wenige Wochen zuvor sei man in Washington schief angeguckt worden, wenn man ein Wort wie „Regulierung“ (der Finanzmärkte) in den Mund nahm. „Es war, als hätte man ein schmutziges Wort benutzt“, sagte Botschafter Scharioth. „Aber das ist jetzt vorbei.“

Man begann nun, auch anders mit den Europäern umzugehen, auf die während der acht Bush-Jahre sehr herabgeschaut wurde. Zu vorsichtig, zu risikoscheu, zu altmodisch waren die Europäer gescholten worde. Europa war weltpolitisch nicht mehr relevant, demographisch auf dem absteigenden Ast, kulturell erstarrt – ein Freizeitpark, dessen Attraktionen Paris, Berlin, London und Rom man gerne besucht. Aber eben irrelevant. Amerika wandte sich unter Bush lieber den ausfsteigenden Mächten des Ostens zu und löste weltpolitische Konflikte auf eigene Faust („go it alone“). Aber der Blick auf Europa verändert sich nun unter dem Eindruck von Machtwechsel und Krise. Ein kleines Beispiel:

Eine Kollegin an unserem Institut erzählte mir Ende Oktober, in ihrer betrieblichen Alterversorgung täten sich neuerdings erschreckende Lücken auf. „Es fehlen mit 40.000 Dollar im Vergleich zum Vorjahr!“ Diese Anlagen – staatlich gefördert – sind nämlich stark an den internationalen Börsen orientiert. Und mit den Börsen hatte auch die Altersvorsorgung der Kollegin einen Kurs Richtung Süden aufgenommen. So geht es vielen heute in Amerika. Manche müssen überlegen, ihre Verrentung zu verschieben, weil sie von den schrumpfenden Rüklagen nicht leben können.

„Wie ist das eigentlich bei Euch in Deutschland organisiert mit der Altersversorgung?“ wurde ich jetzt immer öfter gefragt. Und es schwang überhaupt keine Überheblichkeit angesichts der europäischen Übervorsicht bei diesen Dingen mehr mit.

Mit dem Übergang zur Regierung Obama wurden die Defizite des amerikanischen Weges – so wie Bush ihn  ausgelegt hatte – immer mehr zum Thema. Man schaute nun anders auf die teilweise schrecklich heruntergekommene Infrastruktur des Landes. Flughäfen sind kaum konkurrenzfähig mit denen in Asien oder in Europa. Viele Brücken sind zerfallen. Das öffentliche Verkehrsnetz ist sträflich vernachlässigt worden zugunsten des Autos.

Mittlerweile werden übrigens wieder Strassenbahnen gebaut in drei großen Städten Amerikas. Doch in den riesigen Vereinigten Staaten gibt es keine einzige Firma mehr, die so etwas herstellen kann. Also teilen sich Siemens und Bombardier das Geschäft auf dem Kontinent. Das war ein Thema in führenden Zeitungen des Landes.

Das Bahn-Netz in den USA ist eine Schande. Und nun, da die Leute mehr rechnen müssen, fällt die öffentliche Armut plötzlich übel auf. Wenn man etwa von Boston nach New York fahren will – also zwischen zwei der reichsten Regionen der USA pendeln – ,dann braucht der so gennante Schnellzug ACELA für diese Strecke über 3,5 Stunden. Der deutsche ICE schafft die etwa gleich lange Entfernung von Berlin nach Hamburg in 1,5 Stunden. Es gibt kein anständiges Restaurant in dem Zug. Keine Arbeitsplätze für Computer. Keine Zeitungen. Und die Bahnhöfe in den beiden Städten sind ein Witz. So etwas Kleines und Altmodisches finden sie in keiner deutschen Mittelstadt in der tiefsten Provinz. Und dieser Zug gilt dabei schon als Glanzstück der amerikanischen Eisenbahn.

Die meisten amerikanischen Häuser sind kaum isolierte Leichtbauten aus Holz. Energiesparlampen sind weitgehend unbekannt. Es ist ziemlich schwer zu begreifen, wie das technologisch fortschrittlichste Land der Erde, das uns Computer, Internet und I-Phone gegeben hat, auf vielen zukunfstweisenden Feldern so unglaublich rückständig sein kann. Auf meinem täglichen Weg von Südboston  nach Cambridge fuhr ich täglich am MIT vorbei, dem Massachusetts Institute for Technology, wo GPS-Ortung, das World Wide Web, das Faxgerät und die Wegwerf-Rasierklinge erfunden wurden. Aber Boston hat einen altmodischen öffentlichen Nahverkehr, der kaum mit einer deutschen Provinzstadt mithalten kann. Solartechnik in Privatgebrauch: Fehlanzeige. Windenergie an der stürmischen Neuengland-Küste, ebenfalls Fehlanzeige. Und wenn doch, dann mit Turbinen dänischer Bauart.

Natürlich hängt das mit politischen Entscheidungen zusammen, die auf der Illusion der ewigen Verfügabrkeit von billiger Energie beruhen. Obama steht dafür, dass mit dieser kurzfristigen Denkweise Schluss ist. Nicht zuletzt darum verkörpert er eine Hoffnung auf eine Erneuerung.

 

Während Amerika durch die Krise angestachelt seinen Blick nach innen zu wenden begann, konnte man aber auch etwas anderes beobachten: Die ungeheuere politische und demokratische Vitalität dieses Landes. Es fängt damit an, wie sich ganz normale Bürger für ihren Kandidaten engagieren. Man geht von Haus zu Haus, man macht Anrufe, man macht Stände an öffentlichen Plätzen. Alles freiwillig, ohne große Parteiapparate. Eine wahre Bürgergesellschaft. Es ist sehr ungerecht, wenn bei uns bloß immer vom amerikanischen Wahlkampf als einer Medienangelegenheit bereichtet wird, in der bloß das große Geld zählt. Das ist eine krasse Verzerrung der Tatsachen. Amerika lebt politisch von der Basis her. Obama hat sich das zunutze gemacht, indem er das Internet einsetzte und die einzelnen Bürger direkt ansprach.

Ich kenne viele arrivierte Professoren und Universitätsangestellte, die aus lauter Begeisterung losgezogen sind zum „canvassing“ – der Wahlwerbung von Tür zu Tür.

Dieses lebendige politische Leben korrespondiert mit dem quicklebendigen religiösen Leben in den USA. Und das heißt eben nicht immer, dass die Religion stark politisiert ist, wie etwa bei den Evangelikalen. Die Gemeinde, in der ich herzlich aufgenommen wurde – University Lutheran Church in Cambridge – schien mir ein Musterbeispiel für eine zivilgesellschaftlich gesunde Institution. Es ist eher eine progressive Kongregation, in der die meisten Mitglieder wohl zu Obama geneigt haben dürften (wie überhaupt ganz Massachusetts).

Aber ich fand es gerade darum sehr bewegend, dass nach der Wahl eine Fürbitte abgehalten wurde für „alle jene, die durch den Ausgang dieser Wahl verbittert sein könnten, weil nicht ihr Kandidat gewonnen hat“. In dieser Kirche wurde nicht ein politischer Gegner dämonisiert, wie es leider mancherorts auch geschieht. Diese Kirche war eine Keimzelle bürgerschaftlichen Respekts und Engagements. Wie Sie ja sicherlich wissen, gibt es das Ruhekissen der Kirchensteuer in Amerika nicht. Wer also regelmässig zu UniLu geht, der muss spenden. Am besten den Zehnten, vom Brutto, wenns nichts anders geht auch vom Netto.

Und es wird erwartet, dass man sich im Winter für den Obdachlosen einsetzt, die im Keller der Kirche beherbergt werden. Oder in einer der Gruppen mitarbeitet – Frauengruppe, Bibelkreis, Sonntagsschule, Chor…

Wer die offenen, netten Menschen bei UniLu erlebt hat, wie ich es durfte, der bekommt das Gefühl, dass Amerika doch im Kern gesund ist – in mancher Hinsicht eine gesündere und vitalere Gesellschaft als die unsere, in der man nicht immer gleich davon ausgeht, dass entweder der Staat oder die Institution Kirche (aber was ist das denn ohne die einzelnen?) oder die Gewerkschaft oder sonst eine Art Amt  alles regelt. In Amerika ist ein Spruch wie „Wir sind Kirche“ kein blosser Werbespruch. Es ist dort wirklich so: Wenn wir nicht Kirche sind, dann ist da gar nichts. Und doch gibt es (eben darum?) eine ungeheuer vitale religiöse Landschaft.

Wie wird es nun weitergehen mit Amerika und Europa?

Ich finde es atemberaubend, auf wie vielen Feldern Obama in nur 50 Tagen seiner Amtszeit schon die Weichen anders gestellt hat:

Guantanamo soll geschlossen werden; in einem großen Fernsehinterview hat der Präsident der islamischen Welt die ausgestreckte Hand geboten; den Russen wurde signalisiert, man wolle wieder gemeinsam die Weltprobleme lösen; Hillary Clinton sucht das Vertrauen der Chinesen; sogar mit den Taliban und Iran soll verhandelt werden statt nur zu drohen und zu bomben; die Stammzellforschung darf wieder mit staatlicher Unterstützung rechnen; bei einem Umweltabkommen nach Kyoto wollen die Amerikaner mitmachen; im Nahen Osten soll eine gerechtere amerikanische Politik Palästinenser und Israelis gleich ernst nehmen und die Zweistaatenlösung vorantreiben.

Und das alles vor dem Hintergrund der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren! Kann es denn gelingen?

Die beste vorläufige Antwort hatte die satirische Zeitung „The Onion“ – die Zwiebel – gleich nach der Wahl. Ihre Schlagzeile lautete am Morgen des 5. November: Black Man given Nation’s worst job.

Wollen wir hoffen, dass er das Beste daraus macht. Es geht auch um unser Wohl und Wehe.