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Sorgen eines Wechselwählers (4): Kein Kreuz, nirgends?

 

Meine wöchentliche Kolumne zur Bundestagswahl, aus der ZEIT von morgen, Nr. 38, S. 9:

Und wenn man diesmal einfach wegbliebe? Nichtwähler würde?
Aufgewachsen unter Stammwählern, die nach der Kirche im besten Anzug (man sagte »Sonntagsstaat« dazu) ihr Kreuz zu machen pflegten, mit Gewissenszweifeln zum Wechselwähler geworden, ist die Hürde immer noch hoch für mich. Aber es könnte passieren, dass sie mich doch noch hinübertreiben. Ich bin ja kein Exot mit solchen Gedanken: Kaum mehr als zwei Drittel sind entschlossen, wählen zu gehen. Bis zu 17 Millionen Wahlabstinente werden diesmal erwartet. Wenn es schlecht läuft für die SPD, hat sie am Ende weniger Stimmen als die sogenannte Partei der Nichtwähler.
Kein Wunder: Die Kanzlerin erstickt zärtlich jeden Profilierungsversuch des Gegners in Umarmungen. Sie hat alles immer schon im Angebot – jetzt sogar den Abzug aus Afghanistan (sie nennt es »verantwortliche Übergabe«). Steinmeier tituliert sie maliziös als »Mitbewerber«. Herausforderer ist er für sie offenbar nicht.
Ein Lagerwahlkampf findet nicht statt. Nicht dass ich mich nach den Zeiten von »Freiheit oder Sozialismus« und »Stoppt Strauß« sehne. Ich frage mich allerdings gelegentlich, ob ich am 27. nicht gleich zu Hause bleiben kann, weil es auf mich nicht ankommt. Denn Merkel wird es wohl am Ende wieder werden, in welcher Konstella­tion auch immer. Die meisten denken das, selbst Sozis, auch wenn sie es nicht sagen.
Wenn sich aber das Gefühl breitmacht, über den Kanzler nicht mehr mitbestimmen zu können, ist erst mal die Luft raus. Bleibt das taktische Wählen, um wenigstens die Koalition mitzubestimmen. Es ist allerdings zu einer hochkomplexen Nanotechnologie geworden. Nie war mir unklarer, was meine Stimme bewirken kann. Mit einem Kreuz bei der Union bekäme ich vielleicht nicht die sozialdemokratisierte Merkel, die mir eigentlich gut gefällt, sondern eine von der FDP getriebene unfreiwillige Retro-Neoliberale. Ich müsste also Steinmeier wählen, um Merkel vor Westerwelle zu beschützen? Wähle ich aber Steinmeier in eine zweite Große Koalition, beschleunige ich womöglich den weiteren Zerfall der SPD (worüber sich dann am meisten die Linke freuen würde). Wähle ich Grün, weiß ich nicht, ob meine Stimme mit Merkel, Steinmeier oder gar Westerwelle (Ampel) nach Hause geht. Und Linkswählen wäre ohnehin schon sehr nah am Nichtwählen, weil (diesmal) niemand mit den Dunkelroten regieren wird. Wenn ich zu viel über diese Optionen nachdenke, habe ich einen meiner ohnmächtigen Nichtwähler-Momente.
Aber wir Wechselwähler sind geltungsbedürftig. Wir stimmen nicht (nur) ab, um Zugehörigkeit zu einer Richtung zu bekunden. Ich wechselwähle auch, weil ich das Gefühl von Einfluss am Wahlabend genieße, wie illusionär auch immer.
Als Nichtwähler müsste ich darauf verzichten. Nur im besorgten Stirnrunzeln der Wahlforscher könnte ich meine Spur erkennen, in ihren Kassandrasprüchen über die »Demokratie ohne Demokraten«. Und so will ich mich am Ende wohl doch nicht sehen.
Mag sein, dass es nie irrationaler war zu wählen. Ich fürchte, ich werde es doch wieder nicht lassen können. Ich möchte mich in den Gewinn- und Verlustbalken am Wahlabend wiederfinden. Ich will die Wirkung meines Kreuzchens auf den Gesichtern geschlagener Favoriten, unverhoffter Aufsteiger und gestürzter Hoffnungen ablesen können.