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Nutzt die ägyptische Revolte den Muslimbrüdern?

 

Die Muslimbrüder haben sich zuerst aus den Protesten herausgehalten. Ab heute ist das anders. Die älteste, mitgliederstärkste und wichtigste islamistische Gruppe weltweit, der Inbegriff des politischen Islam, hat sich hinter die Protestierenden gestellt. Nach den Freitagsgebeten kamen Tausende auch mit der Rückendeckung der „Ikhwan“ (Brüder) auf die Straßen.

Die Muslimbrüder waren viele Jahre ein wichtiges Element in der Selbstrechtfertigung des ägyptischen Regimes gewesen. Mubarak empfahl sich seinen westlichen Unterstützern als Bollwerk gegen die einflussreiche islamistische Bewegung. Der Westen ging auf den Deal ein und schaute zum Dank nicht so genau hin, wenn das Regime Islamisten (genau wie auch seine säkularen Gegner) verhaftete und folterte. Mit dem 11. September und seinen Folgen aber hatte sich das Spiel verändert. Mit al-Qaida und anderen global operierenden Dschihadisten tauchte ein radikalerer Zweig des politischen Islam auf, der die Muslimbruderschaft plötzlich in einem moderateren Licht erschienen ließ.

Der ehemalige ägyptische Muslimbruder Aiman al-Sawahiri prangerte die Muslimbrüder nun dafür an, dass sie an Wahlen teilnahmen: Sie sollten die jungen Männer lieber für den Dschihad mobilisieren, statt sie an die Wahlurnen zu treiben. Selbst die Hamas, der Zweig der Muslimbrüder in Gaza, der mit Gewalt gegen Israel kämpft, sieht sich der Kritik von al-Qaida ausgesetzt: Es sei zuwenig, nur um Land gegen die Juden zu kämpfen. Man müsse es als göttlichen Auftrag begreifen.

In jeder Nach-Mubarak-Regierung, die nicht eine Militärdiktatur ist, werden die „Brüder“eine Rolle spielen. Bei den letzten einigermaßen offenen Wahlen im Jahr 2005 kamen ihre Kandidaten auf etwa 20 Prozent. Wie viele in freien Wahlen für sie stimmen würden, ist schwer zu sagen, weil ihr Nimbus natürlich auch vom Verbot profitiert.

Die breite Volksbewegung gegen das Regime hat das Spiel der ägyptischen Regierung mit den westlichen Ängsten vor dem Islamismus nun aber endgültig als erpresserische Überlebenstaktik entlarvt. Nach dem Motto: Wenn wir nicht mehr da sind, dann wird dies hier ein zweiter Iran. Dafür spricht im Moment nichts. Die Muslimbrüder sind bisher nur ein Teil einer nationalen Bewegung. Sie führen die Proteste nicht an. Und der derzeitige Führer der MB, Mohammed Mehdi Akef, wird wohl kaum Ägyptens Chomeini werden.

Die Muslimbrüder wurden 1928 von Hassan al-Banna gegründet. Ihre beiden Themen waren von Beginn an das fundamentalisch-islamische Revival und der Anti-Imperialismus. Die beiden Wege dahin: die Islamisierung der Gesellschaft von unten und der paramilitärische Kampf. Sie hatten ein wechselvolles Verhältnis zu den ägyptischen Machthabern, sowohl zum König Faruk, der bis 1946 die Engländer im Land dulden musste, wie auch zu den „Freien Offizieren“ um Nasser und Sadat, die ihn 1952 stürzten. Hassan al-Banna wurde 1948 ermordet, die Bruderschaft in den Untergrund getrieben. Das anfängliche antiimperialistische Bündnis mit den Offizieren endete in Unterdrückung der Bruderschaft. Sayyid Qutb, der einflussreichste Denker der Brüder, trieb eine Radikalisierung voran, die zur Grundlage des modernen Dschihadismus wurde: die Unterdrücker waren keine Muslime, so Qutb, sondern Apostaten, und die ganze weltliche Ordnung der Gegenwart erschien im Licht der vorislamischen Zeit der Unwissenheit und Gottlosigkeit (Dschahiliya).

Dschahiliya Foto: Jörg Lau

Gewaltsamer Widerstand gegen diese Weltordnung wurde für Qutb zur religiösen Pflicht. Qutb wurde hingerichtet und damit zum Märtyrer. Bis heute werden seine Schriften in Kreisen der Muslimbruderschaft vertrieben. Die offizielle Haltung der Organisation wird aber von Qutbs internen Kritikern wie Hassan al-Hudeibi bestimmt, der Ende der sechziger Jahre gegen die Praxis des Takfir Stellung nahm: Nur Gott könne beurteilen, wer ein guter Muslim sei. Menschen dürften sich nicht wechselseitig zu Apostaten erklären und damit zum legitimen Ziel politischer Gewalt. Die Ablehnung von Takfir durch die MB war wiederum einer der Gründe für die Gründung radikalerer Abspaltungen wie des „Islamischen Dschihad“ und der „Jama’al Islamiya“. Letztere war für die Attentate auf Touristen in den achtziger Jahren verantwortlich. Wiederum eine ihrer Abspaltungen brachte 1981 vor laufenden Kameras den Präsidenten Sadat um, weil er nicht gemäß der Scharia regierte und Frieden mit Israel gemacht hatte.

Während der breite Strom der Muslimbruderschaft solchen Terrorismus verurteilt, unterstützen auch die Moderaten im Mainstream der Bewegung Attentate im Irak und in Israel als „legitimen Widerstand“. Der Ableger der Bruderschaft in Gaza, die Hamas, erkennt Israels Recht zu existieren nicht an. Die MB hat allerdings die Attentate vom 11. September als Taten von „Kriminellen“ bezeichnet, was al-Qaida gegen sie aufgebracht hat. Und der wichtigste Prediger der MB, Yussuf al Qaradawi, hat es Wahnsinn genannt, dass al-Qaida der ganzen Welt den Krieg erklärt hat. Diese Brüche im islamistischen Lager machen deutlich, dass es falsch ist, die Muslimbrüder in einem Kontinuum mit den militanten Dschihadisten zu sehen.

Heißt das, niemand muss sich vor einem möglichen maßgeblichen Einfluss der „Brüder“ auf die künftige ägyptische Politik fürchten? Nein. Die Bruderschaft hat das klare Ziel, die ägyptische Gesellschaft zu islamisieren, wenn auch auf dem legalistischen Weg. Das schariakonforme öffentliche Leben ist für die Bruderschaft als Ziel nicht verhandelbar. Nur über den Weg kann man streiten. Und Ägypten ist in den letzten Jahren schon von unten her stark islamisiert worden. Was mehr MB-Einfluss für die ohnehin schon belagerten Minderheiten bedeuten würde – wie Kopten oder Bahais – kann man sich ausmalen.

Und die ohnehin schon stockenden Bemühungen um eine Zweistaatenlösung in Nahost könnte man womöglich endgültig vergessen. Ägypten ist maßgeblich für die Abriegelung Gazas verantwortlich. Wie wird eine neue Regierung handeln? Zu erwarten wäre wohl, dass die Restriktionen für das von Hamas regierte Gebiet aufgehoben würden. (Allerdings könnte das die Hamas-Herrschaft auch destabilisieren, weil man ja nur unter Belagerung die Bevölkerung als Geisel halten kann.)

Aber welchen Einfluss die Bruderschaft auf ein neues Ägypten hätte, ist alles andere als ausgemacht. Die jungen Leute, die derzeit die Straßen beherrschen, haben nicht auf die Führung durch die Brüder gewartet, um gegen das Regime vorzugehen. Sie haben sich an den Tunesiern orientiert, die ebenfalls ohne die Islamisten ihren Pharao Ben Ali losgeworden waren.

Bisher hatte Demokratisierung in der islamischen Welt meist Islamisierung geheißen. Wer weiß, vielleicht ist diese Welle in Tunis gebrochen?