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Deutschlands außenpolitische Schande

 

Deutschland hat den libyschen Rebellen in der Not nicht geholfen. Jetzt will die Regierung dennoch einen Anteil an deren Sieg reklamieren. Sie hat noch nicht begriffen, dass sie einen historischen Moment verpasst hat. Von Jörg Lau und Bernd Ulrich (aus der ZEIT Nr. 35, S. 4)

Bevor man sich auf die verdrucksten Stellungnahmen der deutschen Politik zum Sieg der Rebellen und des Westens (außer Deutschland) einlässt, sollte hier ein kurzer Blick auf die historische Realität geworfen werden: Keine Befürchtung der Bundesregierung ist eingetreten, die Mission war nicht unmöglich, sie blieb nicht im Wüstensand stecken, es mussten keine Bodentruppen geschickt werden, die militärische Intervention hat die arabische Rebellion belebt, statt sie zu verderben, die Kollateralschäden hielten sich in Grenzen. Selbst wenn jetzt noch vieles schiefgehen sollte, hilft das der Argumentation von Kanzlerin und Außenminister nicht weiter. Denn den Sturz von Gadhafi mit allen Risiken und Nebenwirkungen wollten sie ja auch, sie wollten nur nichts Massives dafür tun.

Umgekehrt: Wenn der Westen den Deutschen gefolgt wäre, dann hätte Gadhafi ungestört sein angekündigtes Massaker in der Stadt Bengasi und an den Rebellen insgesamt verüben können, die Sanktionen hätten ihn ungefähr so beeindruckt, wie sie Syriens Assad beeindrucken. Gadhafi säße nach wie vor unbedroht in Tripolis, und die Diktatoren in der Region wüssten, dass sie vom Westen weitgehend in Ruhe gelassen werden, wenn sie die jeweiligen Aufstände blutig niederschlagen.

Schließlich, so lautet das Fazit aus hiesiger Sicht: Die Deutschen haben sich militärisch rausgehalten und die Verbündeten im Stich gelassen. Das alles war ein großer Fehler und ist eine Schande. So weit die Fakten und ihre Folgen, und nun die Reaktion der Bundesregierung: Man könnte in sich gehen, erst mal schweigen und jenen, die für die Libyer ihre Knochen hingehalten haben, den Moment überlassen. Doch Guido Westerwelle tritt dieser Tage immer wieder vor die Presse, um zu triumphieren, er beansprucht Miturheberschaft für den Fall Gadhafis. »Jeder hat auf seine Art und Weise einen Beitrag geleistet, dass die Zeit des Regimes von Oberst Gadhafi vorbei ist. Wir Deutsche mit unseren politischen Prioritäten, mit unserer gezielten Sanktionspolitik. Das wird auch international sehr geschätzt.« Das wird es keineswegs, doch vor allem hätten die Sanktionen allein so gut wie nichts bewirkt, wenn die Rebellen vernichtet worden wären.

Was hat in Westerwelles Augen den Ausschlag für den Sieg gegeben? Der unbändige »Freiheitswille des libyschen Volkes«, so sagt er, habe den Diktator besiegt. Keine sechs Monate ist es her, dass Deutschland mit einer Enthaltung im Sicherheitsrat zeigte, wie wenig man diesem »Freiheitswillen« zutraute. Niemand verlangt jetzt ein mea culpa, die Libyen-Intervention war hoch riskant. Aber der bevorstehende Tyrannensturz wäre eine gute Gelegenheit einzugestehen, dass die deutschen Befürchtung, in Libyen drohte ein Treibsand wie im Irak, übertrieben war. Die Deutschen haben nur die Risiken, nicht aber die Chancen dieser Intervention analysiert. Das wäre auch eine Chance zur Versöhnung mit den Verbündeten, die sich von Westerwelle – und mehr noch von Merkel – im Stich gelassen fühlten.

Stattdessen reitet Westerwelle auf der Rolle Deutschlands herum, als habe man Gadhafi mit Sanktionen den Nachschub abgeschnitten und die Nato eigentlich nicht gebraucht. Das späte Lob des Freiheitswillens der Libyer klingt blechern, weil es ein Schweigen über die 20 000 Luftwaffeneinsätze der Nato-Verbündeten einschließt, die wohl auch nicht ganz unwichtig für den Sturz des Diktators waren. Der deutsche Außenminister verliert kein Wort über die Angriffe der Amerikaner, Briten und Franzosen auf Gadhafis Truppen, ohne die es heute längst keine Rebellen und keinen Übergangsrat mehr gäbe. Das Wort in Richtung der Alliierten, das hier fehlt, ist sehr kurz, es heißt: danke.

Angela Merkel wiederum lässt jede Chance verstreichen, die Einlassungen ihres entmachteten Außenministers zu korrigieren. Ihre merkwürdig klamme Aussage vom Montag fügt sich ins Bild einer von der Geschichte ertappten Regierung, die aus dem Abseits die Weltgeschichte beobachtet: »Heute ist der Tag, an dem wir sehen, dass dem ehemaligen Machthaber Gadhafi die Macht zusehends entgleitet«, sagte Merkel am Montag auf einer Balkanreise. Gadhafi »entgleitet« die Macht? Zusehends? Die Kanzlerin hat vor einem halben Jahr gesagt, sie könne es nicht verantworten, die Bundeswehr in einen Krieg mit »äußerst ungewissem Ausgang« zu schicken. Nun ist der Ausgang gewiss, sie hat sich geirrt, und was sagt sie dazu?

Die Verbündeten, die nicht bloß zusehen wollten, vernehmen in solchen Statements der Bundesregierung eine schwer erträgliche Rechthaberei. Es lässt sich aber nicht wegreden, dass diesmal die Deutschen auf der falschen Seite der Geschichte aufgewacht sind. Das ist gerade darum ein Problem, weil die Deutschen derzeit in anderen Fragen so oft recht behalten und sich das Recht auf Führung nehmen. Ein Land, das durch seinen wirtschaftlichen Erfolg zum europäischen Hegemon aufsteigt und anderen die Regeln diktiert, täte gut daran einzugestehen, wenn die Nachbarn einmal recht behalten. Die Unfähigkeit der Bundesregierung dazu verrät, wie tief die außenpolitische Desorientierung nach der Libyen-Enthaltung ist.

Westerwelles Diktum, der Erfolg gehöre »dem libyschen Volk« mag in deutschen Ohren wie eine fromme Platitüde klingen. Für Briten, Franzosen und Amerikaner schwingt darin Unbelehrbarkeit und Trotz mit, wenn der deutsche Außenminister nachschiebt: »Ich rate auch davon ab, ihn zu okkupieren, aus irgendwelchen anderen Gründen.« Er selbst hat keine Hemmungen, den Erfolg der anderen zu »okkupieren« und fordert eine angemessene Beteiligung der Deutschen am Wiederaufbau des Landes.

Sarkozy, Cameron und Obama haben Leib und Leben ihrer Soldaten riskiert und ihr politisches Gewicht darauf gewettet, den libyschen Rebellen gegen den Tyrannen zu helfen. Angela Merkel und Guido Westerwelle hingegen haben nichts riskiert, sie haben der innenpolitischen Stimmung nachgegeben, anstatt die kriegsmüden Deutschen zu einem Kampf für die Freiheit in Arabien zu ermutigen. Und während der Endkampf dort noch läuft, melden die Deutschen aus der Etappe schon wieder Ansprüche an und geben Ratschläge.

Dabei steht jetzt für die Bundesregierung eine ganz andere Frage auf der Tagesordnung: Wie kommt sie, wie kommt Deutschland künftig wieder auf das Niveau der Geschichte, wie kann man wenigstens nachträglich die Dimension begreifen und politisch bearbeiten, um die es in Arabien geht? Die anderen westlichen Nationen haben mit ihrem Einsatz zur Versöhnung zwischen den Muslimen und dem Westen beigetragen. Denn das war das Erstaunliche an diesem Krieg: Trotz des Desasters der amerikanischen Invasion im Irak hat die arabische Öffentlichkeit die Intervention in Libyen mit überwältigender Mehrheit unterstützt. Das allein gleicht einem Wunder nach den vielen Jahren westlicher Einmischung in der Region. Doch hier ging es eben darum, in einem entscheidenden Moment der arabischen Revolte zu zeigen, dass die Gewalt der Herrschenden sich nicht mehr durchsetzt.

Das wiederum war hier leider – was die Deutschen nicht wahrhaben wollten – nur mit Gewalt möglich. Die Abwendung eines Massakers und der ersehnte Sturz des mörderischen Clowns von Tripolis wogen für die Araber schwerer als die Ängste vor einem neuen westlich-imperialen Abenteuer. Dieser Krieg fand auf al-Dschasira statt, nicht auf CNN, es gab – erstmals seit Jahrzehnten – keine Verschwörungstheorien über dunkle Absichten des Westens. Die ungeheure Chance dieses historischen Moments verpasst zu haben ist vielleicht das schwerste Versäumnis der Bundesregierung. Sie hat, wie ihre Äußerungen zeigen, noch nicht einmal begonnen, diese Dimension zu begreifen.

Was kann Deutschland nun beitragen? Welche Konsequenzen für die Zukunft ziehen Merkel und Westerwelle aus ihren historischen Fehlern? Oder wollen sie Raushalten zur Doktrin erheben? Niemand hat je vorgeschlagen, das Eingreifen in Libyen als Modell für die unvollendeten Revolutionen in Syrien oder Jemen zu nehmen. Man kann höchstens hoffen, dass der Fall dieses Tyrannen den Rebellen neuen Auftrieb gibt. Doch wie kann man in Deraa, in Homs oder Sanaa den Freiheitskämpfern noch helfen, wie kann man die Regimes unter Druck setzen?

Deutschland hat eine Rolle in dieser Geschichte zu spielen. Die Freude darüber, widerlegt worden zu sein, wäre kein schlechter Anfang.