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Welches Europa will Deutschland?

 

Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen beschäftigt sich mit der außenpolitischen Orientierungs- und Sprachlosigkeit Berlins:

Wie lange kann eine Regierung so weitermachen? Deutschland ist in Europa heute so wichtig wie selten zuvor, seine Außenpolitik so schwach wie nie. Die außenpolitische Krise zehrt mit jedem Tag mehr von dem auf, was einmal Innenpolitik war. Das Schicksal dieser Regierung entscheidet sich an einer einzigen Frage: ob sie es schafft, Deutschlands Position in Europa neu zu bestimmen. Pathetisch gesagt: die Deutschen in Europa neu heimisch zu machen.
Die Kanzlerin aber muss um ihre Mehrheit für die Euro-Rettung zittern. Die Kabinettskollegin von der Leyen nutzt Merkels strategisches Vakuum, um sich als mögliche Nachfolgerin in Stellung zu bringen: Sie strebe die »Vereinigten Staaten von Europa« an – eine Formel, die leider für FDP und CSU den Gottseibeiuns beschreibt.
Und ausgerechnet in Zeiten der Veraußenpolitisierung des Politischen hat Deutschland einen Außenminister, den niemand mehr ernst nimmt. Guido Westerwelle musste erleben, wie ihn die zaudernden Vatermörder Rösler und Lindner erst demontierten, um ihn dann noch einmal – auf Bewährung – im Amt zu lassen.
Weil es ein weiteres Schwächesignal der Koalition wäre, ihn jetzt zu schassen, wird ihm die Krise der Außenpolitik, die er mitverschuldet hat, paradoxerweise zur vorläufigen Rettung. Westerwelle hat den Nato-Alliierten Respekt für ihren Libyen-Einsatz bekundet – spät und unter Druck. Seine vergeblichen Versuche, den Sturz Gadhafis den deutschen Sanktionen zuzuschreiben, haben die Orientierungslosigkeit der deutschen Politik noch einmal vor aller Augen geführt.
Auf Bewährung ist nicht nur er, sondern die deutsche Außenpolitik im Ganzen. Da es auf Westerwelle nicht mehr ankommt, läuft nun alles auf die Kanzlerin zu. Sie hat die Libyen-Entscheidung einst gemeinsam mit Westerwelle getroffen. Jetzt muss sie den Schaden begrenzen – und das ist noch eine der kleineren Herausforderungen.
Weder gegen die Deutschen noch ohne sie ist Europa zu retten
Deutschland steht vor einer Frage, so groß wie Wiederbewaffnung, Westbindung oder Ostpolitik: Wie weiter mit den Deutschen in Europa? Europapolitik, einst die Domäne der Technokraten, ist zur Bühne der deutschen Identitätskrise geworden. Die alte Lehre, das Land sei zu klein für die Hegemonie in Europa und zu groß für das Gleichgewicht, scheint überholt.
Der bewährte Deal funktioniert nicht mehr, in dem Deutschland die Wirtschaftsmacht, Frankreich aber das politische Schwergewicht stellte. Früher konnte Deutschland Macht kaufen. Heute ist es auch politisch in Europa eine unverzichtbare Kraft. Weder gegen die Deutschen noch ohne sie kann Europa gerettet werden.
Dabei hatte man den Euro auf französischen Druck eingeführt, um eine deutsche Hegemonie in Europa zu verhindern. Doch er wurde ironischerweise zur Grundlage einer deutschen Vorherrschaft. Die Deutschen sind Europas Gewinner, und doch fühlen sich viele hierzulande von Europa betrogen. Der Euro hat die Deutschen zum ängstlichen Hegemon Europas gemacht. Deutschland fürchtet sich vor Europa, und die Europäer fürchten Deutschlands Macht.
Die Deutschen müssen nun die EU just in dem Moment umbauen, da sie beginnen, sich nicht länger als Mustereuropäer, sondern als Opfer zu sehen. Europa war einmal ein Wert an sich. Nun aber glauben viele, »mehr Europa« bedrohe Werte und Wohlstand.
Getrieben von den Märkten, baut die Kanzlerin darum das neue Europa im Tarnkappen-Modus. Sie kämpft offiziell für die Verbreitung deutscher Stabilitätskultur, aber Begriffe wie Wirtschaftsregierung, europäischer Finanzminister, Euro-Bonds und – nun sogar – Vereinigte Staaten von Europa sind durch ihre Politik allmählich in die Zone des Denkbaren gerückt.
Deutschland hat unter dem Radar fliegend begonnen, Europa nach seinem Bilde zu verändern: Nicolas Sarkozy, einst Wortführer der Schuldnerländer, ist heute Verfechter der Stabilität.
Die Regierung muss die strategische Verstocktheit aufgeben und darüber Rechenschaft ablegen, dass sich auch die deutsche Haltung mehr verändert hat, als die Berliner Sprachlosigkeit ahnen lässt. Neben Europa bleibt die zweite Schicksalsfrage die nach Krieg und Frieden. Was ist die Lehre aus den Interventionen der letzten beiden Jahrzehnte – von Bosnien über Afghanistan bis Libyen? So schnell wie möglich raus – und nie wieder mitmachen? Der Libyen-Krieg gibt zu Zweifeln Anlass, auch wenn er kein Modell ist. »Kultur der Zurückhaltung« darf nicht zum Synonym des moralisch überhöhten Raushaltens um jeden Preis werden.
Drittens, auch eine deutsche Kernfrage: Israel. Wie verhält sich Deutschland im September, wenn die Palästinenser vor den Vereinten Nationen Anerkennung verlangen? Kann man diesen Wunsch nach dem Arabischen Frühling noch schnöde abweisen? Wir müssen raus aus den öden Ritualen der Nahostdiplomatie, ohne uns dabei gegen Israel oder die USA zu positionieren.
Die Libyen-Entscheidung hat Deutschland an die Seite Russlands, Chinas und Indiens geführt. Deutschland braucht neue strategische Partner. Aber wir können darum nicht blockfreie Politik machen. Wir brauchen ganz Europa, um es mit China aufzunehmen – und Europa braucht umgekehrt uns, damit es in der Welt zählt.
Welches Europa will Deutschland? Welches Deutschland braucht Europa? Nur wenn sie darauf eine Antwort findet, hat diese Regierung noch eine Chance.