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Warum interessieren wir uns nicht für Opfer des antimuslimischen Rassismus?

 

Ich habe die Hoffnung, dass sich Juden und Muslime nicht durch die jüngsten Vorfälle gegeneinander aufbringen lassen. Zur Stunde findet in Berlin eine Demo gegen Beschneidungsverbote statt, bei der ein breites Spektrum von Gruppen vertreten ist – neben jüdischen und muslimischen auch christliche Unterstützer. Das ist ein gutes Zeichen.

Allerdings muss ich Sakine Subasi-Piltz Recht geben, die sich beklagt, dass die Opfer des antimuslimischen Rassismus in Deutschland trotz des Skandals um die NSU nicht genügend beachtet werden. Etwas stimmt nicht in der Wahrnehmung: Der Fall des Rabbiners Daniel Alter hat Entsetzen ausgelöst. Die häufigen Hass-Attacken gegen Muslime und ihre Einrichtungen finden kaum Aufmerksamkeit. Ich zitiere aus einem Post von Frau Subasi-Piltz:

„Als ich von dem Überfall auf den Rabbiner gelesen habe, war ich schockiert und beschämt darüber und habe, ich gebe es zu, auch nichts dazu gesagt. Ich habe beschämt darauf gewartet, dass andere einen Solidaritätsakt beginnen, dem ich anschließen kann. So kam es dann auch.
Als in den Medien darüber geschrieben wurde, dass Muslime sich mehr solidarisieren könnten, habe ich dieser Kritik aus meiner ganz persönlichen Perspektive in verschiedenen Internetforen Recht gegeben. Ich fand auch die Presseerklärung Ali Kizilkayas nicht ganz richtig und hätte mir von ihm noch mehr versöhnliche Worte gewünscht, als sich zu beklagen. Das war Fehl am Platz.

Doch seit einigen Tagen versuche ich auch die Aufmerksamkeit auf ebenso aktuelle Fälle von antimuslimischem Rassismus zu lenken. Ich schreibe Autor_innen an, die sich über die mangelnde Solidarität unter Muslimen gegen Antisemtismus beklagen und fordere von Ihnen, sich bitte mit auch mit Muslimen gleichermaßen zu solidarisieren. Mir geht es nicht darum, die Opfer auf der muslimischen Seite gegen die Opfer auf der jüdischen Seite aufzuwiegen. Jeder Fall ist einer zu viel, zumal diese Debatte nicht in der Hinsicht geführt werden sollte, Muslime gegen Juden aufzuwiegeln. Es geht eher darum, die Gesamtgesellschaft anzusprechen und die mehrheitsgesellschaftlichen Akteure aufzufordern, sich sensibler gegen Rassismus in Deutschland zu positionieren, egal gegen wen er gerichtet ist und die Probleme von Rassismus nicht den Minderheiten in die Schuhe zu schieben. Gerade wenn es um Antisemitismus unter Muslimen geht, erwarte ich eine Sensibilität, die auch den antmuslimischen Rassismus in Deutschland berücksichtigt. Doch schon wie in dem Fall von Marwa El-Sherbini, die letztendlich aufgrund ihres Kopftuchs in einem Dresdner Gerichtssaal ermordet wurde, interessieren sich die Medien der Mehrheitsgesellschaft nicht für muslimische Opfer.

In den letzten Tagen und Wochen sind aber gerade Muslime vermehrt wieder Opfer rechtsextremer und antimuslimischer Gewalt geworden. Hier eine Chronologie der mir bekannten Fälle:

30.07.2012 Woltmershausen/ Bremen: Brandanschlag auf türkische Familie, nach dem rassistische Äußerungen getätigt wurden. Die Nachbarschaft hat sich zusammengetan, um einen Brandanschlag zu verüben.

27.08.2012 Herzogenrath: „geht in Euer Land zurück … mit Eurem Scheißkopftuch.“ Zwei türkischstämmige Frauen werden in einem Park brutal zusammengeschlagen. Sie kommen gerade aus dem Krankenhaus. Der Ehemann von einer der Frauen liegt mit Krebs im Krankenhaus. Sie wollen sich ausruhen und werden von drei Personen zusammengeschlagen. Eine der Frauen muss auf die Intensivstation eingeliefert werden und überlebt den Vorfall nur knapp.

31.08.2012 Betzdorf: In die Wohnung einer türkischen Familie wird eingebrochen. Mit Pistole und Eisenstange gehen zwei Männer auf die Familie mit fünf kleinen Kindern zwischen 2 und 9 Jahren los. Der Vater der Familie lässt geistesgegenwärtig seine Handykamera laufen, auf der der Überfall und die schreckliche Angst der Familie nicht zu übersehen und vor allem nicht zu überhören ist. Die Einbrecher, richten die Pistole, bevor sie gehen, auf alle, sogar auf die Kinder…

Ende August: Angriff auf DITIB Moschee im Odenwald/ Breuberg

02.09.2012 Berlin: Ein junger Mann wird von zwei Rechtsradikalen (die am gleichen Abend an einem Neonazi-Treffen in Berlin-Schöneweide teilgenommen hatten) attackiert und flüchtet in eine Imbissstube (diese wehren gemeinsam die Täter ab)

02.09.2012 Haiger: versuchter Brandanschlag auf IGMG Moschee

03.09.2012 Hanau: versuchter Brandanschlag auf IGMG Moschee
(Zusammengestellt von Elif Arikan, Initiatorin der Facebookgruppe „Rechtsextreme Gewalt und Übergriffe – Antmuslimischer Rassismus“)

Als ich das Video von dem Einbruch und dem Einschüchterungsversuch bei der Familie Korkusuz gesehen habe, konnte ich zwei Tage kaum noch klar denken. Die Hilferufe und Angstschreie der Kinder und auch der Eltern, gingen mir nicht aus dem Ohren. Auf der anderen Seite hören die Artikel nicht auf, die (…) Antisemitismus bei Muslimen beklagen und dabei Muslimen mehr oder weniger pauschal eine Art Verlogenheit gegenüber Rassismus in den eigenen Reihen vorwerfen. Dabei noch kein Wort der aufrichtigen Anteilnahme zu den Übergriffen auf Muslime, die auch gerade passiert sind.

Doch der antisemitische Übergriff auf den Rabbiner scheint für einige nützlich zu sein, ob nun direkt politisch oder emotional unbewusst. Denn gerade als sich Muslime und Juden begannen anzunähern, ja sogar gemeinsame Aktionen durch zu führen, welche eine der wenigen positiven Konsequenzen der unsäglichen Beschneidungsdebatte ist, werden Konflikte zwischen Juden und Muslimen geschürt. In den Medien geschieht dies, in dem jüdische Opfer groß gemacht werden, während muslimische fast gar nicht erwähnt werden. Zudem wird das Problem des Antisemitismus den Muslimen zugeschoben. Und während Muslime und Juden verletzt und betroffen sich gegenseitig Vorwürfe machen, zieht sich die christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft aus der Verantwortung.“