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Mehr als Fressen und Moral: Deutschland braucht eine außenpolitische Strategie

 

Erfreulicher Weise hat meine Intervention wider die „deutsche Liebe zu den Diktatoren“ eine Debatte ausgelöst, die nicht abreißt. (In der kommenden Ausgabe der ZEIT antwortet Gerhart Baum (FDP) auf Eberhard Sandschneider.) Der folgende Beitrag stammt von Ulrich Speck, einem der anregendsten unabhängigen Köpfe auf dem Feld der außenpolitischen Debatte in Deutschland. Speck war von 2005 bis 2007 auch Zeit Blogger  (Kosmoblog). Er ist außenpolitischer Kolumnist bei der NZZ und bei Carnegie Europe.

Die Deutschen wollen verständlicherweise beides, gut verdienen und gut schlafen. Gut verdienen bedeutet, nach Lage der Welt, auch mit übleren Regimes Geschäfte zu machen. Gut schlafen heißt, dennoch ein gutes Gewissen zu haben.

Fürs Geldverdienen sind die Unternehmen zuständig. Aber auch die Politik. Türen in Russland, China, Kasachstan und anderswo zu öffnen gehört zu den Aufgaben eines Bundeskanzlers, spätestens seit Helmut Schmidt. Die Bundeskanzlerin nimmt Wirtschaftsbosse mit in der Kanzlermaschine und unterzeichnet Verträge, ein schon lange vertrautes Bild. Die Politik kümmert sich um den Rahmen, bildet Vertrauen, schafft Gelegenheiten, gibt Bürgschaften. Die Unternehmen exportieren und investieren. Eine Symbiose, die Deutschland reich gemacht hat – ungeheuer reich.

Weil Deutschland aber nicht nur reich sein will, sondern eben auch Gutes tun in der Welt, spricht die Regierungschefin im Ausland auch die Menschenrechte an, oder trifft sich mit Dissidenten. Und es gibt es sogenannte Dialoge mit mehr oder weniger autokratischen Regierungen, über Menschenrechte und den Rechtsstaat. Das alles ist seit Jahren institutionalisiert – und hat, über einzelne Gnadenakte hinaus, wenig bewirkt. Vieles ist Ritual.

Diese Trennung der Sphären – hier das Geschäft, dort die Menschenrechte, oder, nach Brecht: hier das Fressen, da die Moral – ist auch charakteristisch für die außenpolitische Debatte. Es gibt den moralischen hohen Ton, der von der Außenpolitik fordert, nichts zu tun, was Menschen in anderen Ländern schaden könnte. Und es gibt die Wortführer des Interesses, die sich gegen die moralische Aufladung von Außenbeziehungen wenden. Vor allem mit zwei Argumenten: Erstens, die Amerikaner bemänteln mit Menschenrechten auch nur ihre wirtschaftlichen Interessen, zweitens, wir haben kein Recht, anderen vorzuschreiben, wie sie leben wollen. Das klingt zumindest progressiv.

Die Debatte wird jedoch oft verkürzt geführt. Weder ein rein von Menschenrechtsbelangen noch ein rein von Unternehmensinteressen geprägter Ansatz kann und soll deutsche Außenpolitik anleiten. Beide müssen vielmehr in einen umfassenderen außenpolitischen Ansatz einfließen. Deutschland als Staat hat Interessen, die weder identisch sind mit den kurzfristigen Gewinninteressen von Unternehmen noch mit den Kampf um Freiheitsrechte von Individuen und Gruppen in anderen Ländern. Beides gehört in den Mix, aber Außenpolitik muss weitaus breiter angelegt sein.

Außenpolitik muss vielfältige Interessen abwägen und integrieren. Dazu gehören materielle Interessen: Unternehmensinteressen (Großunternehmen und Mittelstand), langfristige ökonomische Interessen (Energie und Bodenschätze), finanzpolitische Interessen. Dazu gehören auch sicherheitspolitische Interessen: Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung von Frieden, Sicherheit der Verkehrswege. Aber auch ideelle Interessen wie Einhaltung der Menschenrechte, Gerechtigkeit, Kampf gegen Armut. Weiterhin das Menschheitsinteresse am Erhalt der natürlichen Umwelt. Und nicht zuletzt das Interesse am Erhalt einer Weltordnung, die Deutschland Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gebracht hat.

Wie aber lässt sich das alles halbwegs in Einklang bringen? Wie verhindert man, dass sich Außenpolitik nicht im Klein-Klein individueller Akte verliert? Die Antwort lautet: “grand strategy” — eine übergreifende, umfassende Strategie, die die generelle Marschrichtung vorgibt und an der sich die vielen Akteure im Feld der Außenbeziehungen orientieren können. Und die zudem die Verbindung und Abstimmung mit unseren wichtigsten Partnern erleichtert, europäisch und transatlantisch.

Mein Vorschlag für so eine grand strategy ergibt sich aus der Prämisse, dass Deutschland seine Sicherheit, seine Freiheit und seinen Wohlstand einer Ordnung verdankt, die als liberal zu bezeichnen ist: beruhend auf Marktwirtschaft und liberaler, also Freiheit und Sicherheit garantierender Demokratie.

Nach ihrer Schwächephase zwischen den beiden Weltkriegen, als totalitäre Alternativen attraktiver erschienen, hat sich liberale Staatlichkeit mit amerikanischer Hilfe in Europa fest etabliert, nach 1945 im Westen, nach 1990 dann auch in der Mitte und im Westen des Kontinents. Zahlreiche neuen Demokratien sind in der Welt entstanden, in Asien, Afrika und Südamerika.  Deutschland hat, eingebettet in Nato und EU, seine zweite Chance genutzt und ist zu einem der Anker liberaler Staatlichkeit in der Welt geworden.

Das Beispiel Europas, aber auch die Erfahrungen in anderen Weltregionen, die in den letzten Jahrzehnten das Modell liberaler Staatlichkeit übernommen haben, zeigen, dass liberale Demokratie die Erfolgsformel für langfristige Stabilität darstellt. Demokratisch gewählte Regierungen verfügen über ein Maximum an Legitimität, und Minderheiten haben durch den Staat gesicherte Rechte. Nicht Willkür herrscht, sondern der Mehrheitswillen im Rahmen von Gesetzen, die sich Gesellschaften selbst gegeben haben. Individuen und Gruppen genießen Raum für wirtschaftliche Entfaltung. Konflikte werden nicht mit Gewalt ausgetragen, sondern durch Verhandlungen und die Anrufung von Gerichten gelöst. Regierungen sind auch außenpolitisch tendenziell eher bereit, Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen; materielle Gewinne spielen eine größere Rolle als Status. Man schaue sich nur die Staaten an, die uns derzeit beunruhigen: Iran und Nordkorea, Syrien, in gewissem Grad auch Russland und China. Alles keine liberalen Demokratien. Von Frankreich, Japan, Australien oder Brasilien hingegen fühlt sich niemand bedroht.

Liberale Demokratie muss man im übrigen auch niemandem aufzwingen. Wenn Menschen aber die Wahl haben, dann entscheiden sie sich eben nur in den seltensten Fällen dafür, autokratische oder diktatorische Regimes einzusetzen, die die natürlichen und menschlichen Ressourcen des Landes zu eigenen, privaten Zwecken unter Einsatz von Gewalt ausbeuten. Niemand lässt sich eben gerne unterdrücken oder in seiner Entfaltung beschneiden. Deutsche sollten das doch eigentlich wissen. Über Jahrzehnte war Ostdeutschland von einem Gewaltregime beherrscht, das seine Bürger nur durch Androhung von Mord an der Grenze zurückhielt. Als die Gewaltandrohung schwächer wurde, entledigten sich die Bürger ihrer selbsternannten Führung und strebten in die Freiheit namens liberale Staatlichkeit. Dass die Propaganda autokratischer Regimes alles daran setzt, die Attraktivität dieses Modells zu negieren, liegt in der Natur der Sache. Man sollte aber, gerade wenn man selbst im Vollbesitz aller Freiheits- und Entfaltungsrechte ist, dieser Propaganda nicht auf den Leim gehen. Der Wunsch, anständig regiert zu werden, ist universal.

In seiner Nachbarschaft betreibt Deutschland bereits ja auch seit Jahrzehnten eine Politik, die auf der Idee der Ausweitung des Geltungsbereichs liberaler Staatlichkeit gründet. Die schrittweise EU-Erweiterung, von Deutschland mitgetragen und gerade nach Osten hin von Deutschland forciert, war immer an die Bedingung geknüpft, dass Kandidaten das Gesamtpaket liberaler Staatlichkeit und marktwirtschaftlicher Ordnung übernehmen. In einer solchen Nachbarschaft fühlt sich Deutschland sicher und stabil – und es entsteht neue Nachfrage für deutsche Produkte.

Deutschland hat ein generelles Interesse an der Ausweitung der Zone liberaler Staatlichkeit: ökonomisch, friedenspolitisch und im Hinblick auf Menschenrechte. Auch das längerfristige Interesse deutscher Unternehmen ist in freiheitlichen Staaten weitaus besser gesichert als in fragilen, immer von Umsturz und Verwerfungen bedrohten Autokratien; in liberalen Staaten stimmen die Rahmenbedingungen für auf Dauer angelegten Warenverkehr. Und auf längere Sicht sind auch die Menschenrechte nur dann in guten Händen, wenn ihre Einhaltung nicht von der willkürlichen Gnade autokratischer Herrscher abhängt, sondern von einem institutionellen Rahmen, der Grund- und Freiheitsrechte garantiert.

Eine außenpolitische Strategie, die am Ziel der Ausweitung des Geltungsbereichs liberaler Staatlichkeit ausgerichtet ist, würde alle Aspekte der bilateralen Beziehungen immer einem Test unterwerfen: Ist das, was wir tun, eher förderlich oder hinderlich für eine langfristige Wandlung hin zu liberal-demokratisch-marktwirtschaftlicher Staatlichkeit? Stützen wir Kräfte und Strömungen, die einen Wandel stärken oder sind wir Teil der Kräfte der autokratischen Beharrung? Mit wem arbeiten wir zusammen, um die Entwicklung des Landes in die Richtung zu fördern, die diesem übergreifenden Interesse entspricht? Führt Annäherung zum Wandel, oder ist mehr Distanz angebracht? An welchen Stellschrauben können wir drehen, um die Entwicklung in diesem Sinne zu befördern?

Deutsches außenpolitisches Handeln in eine solch umfassende Strategie einzubinden würde sie weitaus effektiver und zielgerichteter machen. Die derzeit dominierende Praxis, in der die Interessen von Unternehmen unter der sichtbaren Oberfläche erheblichen Einfluss auf die Außenpolitik ausüben, balanciert durch ein bisschen menschenrechtliche Rhetorik, mag zwar diejenigen, die den massivsten Druck auf die Regierung ausüben, jeweils in gewissem Grad befriedigen. Sie kann aber kein Ersatz für eine echte Außenpolitik sein, die den Gesamtinteressen des Staates entsprechen sollte.

Ulrich Speck ist außenpolitischer Analyst in Heidelberg.