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Warum gegenüber Ägypten eine klare Sprache gefordert ist

 

Diesen Text haben mein Kollege Michael Thumann und ich zusammen für die letzte Ausgabe der ZEIT verfasst, wo er am Donnerstag auf Seite 3 erschienen ist:

Als am letzten Donnerstag die Bulldozer, die Panzer und die Sniper in Kairo zuschlugen, waren die beiden Diplomaten schon abgezogen. Voll finsterer Vorahnungen hatten die Vertreter des Westens Ägypten verlassen. William Burns, der amerikanische Vizeaußenminister, und Bernardino Léon, der europäische Sondergesandte, hatten wochenlang hinter den Kulissen versucht, zwischen der Putsch-Regierung des Generals Abdel-Fattah al-Sissi und den Muslimbrüdern zu vermitteln, um ein drohendes Blutbad zu verhindern. Sie hatten die Islamisten für ihren Vermittlungsplan gewonnen – freiwillige Verkleinerung der Protestlager und Verurteilung von Gewalt gegen politische Beteiligung und Freilas-sung von Gefangenen. Auch die Regierung signa-lisierte Einverständnis. Doch dann erklärte sie über Nacht die Diplomatie für gescheitert und kündigte an, für alles Kommende trügen die Muslimbrüder die Verantwortung.

Das Massaker von Kairo mit seiner Vorgeschichte von Politikversagen, Verrat und Täuschung ist eine dreifache Zäsur: Das Experiment der demokratischen Zähmung des politischen Islams ist abgebrochen worden. Das politische Bündnis zwischen dem Westen und dem wichtigsten arabischen Land steht auf der Kippe. Und die Einflusssphären im Nahen Osten werden neu aufgeteilt.

Die westlichen Diplomaten wurden von den ägyptischen Verbündeten getäuscht. Ihr Scheitern war gewollt, der Misserfolg lieferte den Vorwand für die Gewalt der Sicherheitskräfte. Das ägyptische Militär hat seine westlichen Partner hereingelegt und sie dadurch zu unfreiwilligen Komplizen eines Massakers gemacht.

Der Schock darüber sitzt tief in Berlin, Brüssel und Washington. Jetzt streitet man sich über den richtigen Umgang mit dem Regime in Ägypten: Braucht man nach dem Scheitern der Diplomatie nicht endlich eine klare Sprache? Oder beraubt man sich dadurch des letzten Einflusses? Mit welchem Regime hat es der Westen zu tun? Was ist zu sagen, wenn liberale und säkulare Kräfte der Vernichtung des politischen Gegners applaudieren, Islamisten Kirchen anzünden, Generäle auf das eigene Volk schießen lassen?

Während man sich in westlichen Staatskanzleien konsterniert diese Fragen stellt, rutscht Ägypten in einen Dauerkonflikt ab, Tag für Tag ein bisschen mehr. Sicherheitskräfte schießen auf Demonstranten. Dschihadisten überfallen Militär- und Polizeiposten auf der Sinaihalbinsel, Kirchen gehen in Flammen auf. Über tausend Tote sind allein seit der vergangenen Woche zu beklagen.

In der Nacht zum Dienstag wurde der Chef der Muslimbrüder verhaftet. Der Bewegung soll die Spitze genommen werden, fast alle Führer der Bruderschaft und der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei sitzen mittlerweile in Haft. Mohammed Badie, dem Chef der Muslimbrüder, wird Anstiftung zum Mord vorgeworfen. Der Übergangsministerpräsident Hasim al-Beblawi hat angeregt, die ganze Bewegung zu verbieten. Aber kann man ein Viertel der Ägypter, Unterstützer und Wähler, gleich mit verbieten?

Immerhin stellten die Muslimbrüder bis vor sechs Wochen die größte Partei und den gewählten Präsidenten des Landes. Und noch nirgendwo hat es auf Dauer funktioniert, den politischen Islam allein mit Gewalt in den Griff zu kriegen. Das hat sich schon in der kemalistischen Türkei und im Persien des Schahs gezeigt. Ohne politische Integration droht der Umsturz oder ein permanenter Krieg mit Abertausenden von Toten.

Kein Zweifel, die Muslimbrüder haben ihre Chance vertan. Mohammed Mursi erwies sich in einem Jahr an der Macht als ein unfähiger Präsident, der in der Wirtschafts- und Versorgungskrise versagte, die staatlichen Apparate mit eigenen Leuten durchsetzte und sich ansonsten auf die Durchsetzung schariakonformer öffentlicher Sittlichkeit konzentrierte. Dafür hätte er eine krachende Abwahl verdient gehabt, aber keinen Militärputsch. Die Millionen-Demonstrationen Ende Juni wären ein guter Anlass für vorgezogene Wahlen gewesen. Stattdessen nutzte sie General Al-Sissi als demokratisches Vorspiel für die quasi-diktatorische Machtübernahme.

Die westlichen Regierungen tun sich schwer, diesen Vorgang korrekt zu benennen: als Putsch. So heißt es nun einmal, wenn das Militär einen demokratisch gewählten Präsidenten abräumt und ins Gefängnis steckt, egal, ob man den prominenten Häftling schätzt oder nicht. Es ist ein Putsch nicht nur gegen die Muslimbrüder, sondern gegen die demokratische Revolution und die Freiheit der Ägypter. Die Generäle haben sich entschlossen, das Demokratie-Experiment abzubrechen – paradoxerweise unter großem Applaus eines erheblichen Teils der Bevölkerung.

In den Ministerien und Behörden erwachen nun die Schläfer des alten Regimes, die Revolution und Muslimbruderherrschaft still überstanden hatten. Sie ziehen Listen mit politisch Verdächtigen aus den Aktenschränken, die jetzt Anwärter auf eine Gefängniszelle sind. Zugleich wird der alte Herrscher Hosni Mubarak diese Woche auf freien Fuß gesetzt, das sagen zumindest seine Anwälte. Seine treuen Gouverneure sind in 27 Regionen bereits wieder im Amt. Die revolutionären Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt. Die Konterrevolution ist in vollem Gange.

Während unter Mursi – wenn auch zu seinem Verdruss – in Ägypten eine bunte und kritische Medienlandschaft herrschte, ist die Presse jetzt innerhalb kürzester Zeit gleichgeschaltet worden. Die Muslimbrüder werden schlichtweg zu »Terroristen« ab-gestempelt. Gegen westliche Berichterstatter hat der Generalstab eine Hasskampagne losgetreten.

Eine Welle des Nationalismus und des Antiwestlertums geht durch Ägypten. Die liberale -Organisation Tamarrod, Kern der Anti-Mursi–Bewegung, hat dazu aufgerufen, die Beziehungen zu Amerika zu überprüfen und einzufrieren. In Kairo überschlagen sich säkulare Publizisten und Politiker mit ätzender Kritik an Amerika und Europa. Der Westen wird als naiv gescholten oder als anti-ägyptisch, als Freund der Terroristen und Feinde Ägyptens, womit die Muslimbrüder gemeint sind.

Das Militärregime lässt Kritik abprallen mit Verweis auf die vielen Ägypter, die hinter ihm stehen. General Sissi ist zum Nationalhelden geworden. Verlässliche Umfragen gibt es derzeit nicht: Doch auch wenn eine Mehrheit der Ägypter Sissi schätzt, wird noch keine Demokratie daraus. Denn die braucht Wahlen, friedlichen Machtwechsel und den politischen und physischen Schutz der Verlierer eines Machtkampfes. Das Gegenteil ist derzeit in Ägypten zu beobachten.

Der Trumpf der Generäle ist das Versprechen von Stabilität nach innen und außen. Damit ziehen sie die revolutionsmüden Ägypter, die Freunde in Saudi-Arabien und auch die israelischen Nachbarn auf ihre Seite. Auch im Westen sind viele für diese Verheißung empfänglich.

Doch Ägypten wird instabiler, und dies in einem Maße, dass die Ära Mubaraks und das Jahr mit Mursi bald wie eine friedliche Idylle erscheinen könnten. Die Ausgrenzung und das mögliche Verbot der Muslimbrüder kann Teile der Islamisten in den gewaltsamen Widerstand treiben.

Die Muslimbrüder hatten in den siebziger Jahren der Gewalt abgeschworen, militante Anhänger spalteten sich ab. Die Mainstream-Islamisten nahmen seit den achtziger Jahren an Wahlen teil. Die Organisation unterhielt keine geheimen Waffenlager, wie regimetreue Journalisten behaupten. Aber das heißt nicht, dass die Muslimbruderschaft auf ewig bei ihrer gewaltfreien Linie bleibt. Aus Libyen und über den Sinai können Waffen nach Ägypten geschmuggelt werden. Die Zukunft der Bewegung ist offen. Sie kann sich weiter spalten, in Moderate und Gewaltbereite. Sie kann auch insgesamt eine taktische Allianz mit radikaleren Gruppen eingehen.

Längst haben sich Dschihadisten und Bombenwerfer zu selbst erklärten Verbündeten der verfolgten Muslimbrüder gemacht. Dass im Sinai 25 Beamte aus dem Hinterhalt erschossen wurden, zeigt, wie unbeherrschbar die Lage ist. Trotz erhöhter Militärpräsenz und israelischer Drohnenangriffe wird die Sinaihalbinsel zur unkontrollierbaren Durchgangsstation für Dschihadisten. Die Attacken haben seit dem Putsch vom 3. Juli stark zugenommen. Bei den Demonstrationen in Kairo starben auch Polizisten durch Waffen von islamischen Radikalen. Das schlimmste Schicksal jedoch widerfährt den Christen.

Extremisten zünden täglich Kirchen an, über sechzig in der vergangenen Woche. In der Nil-Stadt Minja hetzte ein islamistischer Mob Christen zu Tode. Islamisten werfen den Christen vor, das Militär zum Putsch angestachelt zu haben. Die meisten Christen wiederum sehen im Militär die letzte Zuflucht und setzen auf den starken Mann Sissi. Der koptische Papst Tawadros II. saß in der Nacht des Putsches vom 3. Juli neben Sissi. Die Armee aber kann die täglichen Angriffe nicht verhindern, sondern höchstens -rächen. Daraus entsteht der Teufelskreis der Gewalt in Ägypten. Die einfachen Gläubigen bezahlen den Preis der politischen Irrfahrt.

Ägypten war vor dem Putsch schon instabil – wirtschaftlich und politisch. Aber zu einem Land am Abgrund eines Bürgerkrieges ist es erst seit dem Putsch geworden.

Das stellt Ägyptens westliche Partner vor ein Dilemma: Es ist unmöglich, den neuen Herrschern einfach weiter Entwicklungs- und Militärhilfe zu zahlen, als hätten sie kein Blut an den Händen. Zugleich geht die Angst um, dass Sanktionen und Druck gegen Ägypten nur noch mehr Chaos und den Verlust jeglichen Einflusses bringen würden.

So begnügt der Westen sich mit halbherzigen Gesten: Deutschland setzt die Entwicklungshilfe aus und stoppt Waffenlieferungen an Ägypten, spricht aber immer noch von »Inklusion« und »Kompromiss«. Die Amerikaner sagen zwar ein Manöver ab, verzögern die Lieferung von Kampfflugzeugen und stellen Teile ihrer Wirtschaftshilfe ein, lassen aber die viel bedeutendere Unterstützung des Militärs – 1,5 Milliarden Dollar jährlich – bisher unangetastet.

Obama verurteilt die Gewalt, aber er meidet das Wort coup, weil laut amerikanischem Gesetz nach einem Putsch die Militärhilfe eingefroren werden muss. Auch die deutsche Regierung hält sich auffällig zurück. Man will die Amerikaner nicht in Zugzwang bringen, mit den neuen Herrschern am Nil zu brechen.

Dahinter steht die Furcht, dass ein offener Bruch mit Kairo westlichen Interessen schaden könnte. Sie wiegt für Amerikaner und Europäer auch nach dem Blutbad von Kairo noch schwerer als die Abscheu vor der Brutalität des Regimes. Das zeigt sich daran, dass an der Militärhilfe festgehalten wird, dem Kern der ägyptisch-ameri-kanischen Kooperation. Sie dürfe nicht gestrichen werden, weil sie Einfluss bringe, heißt es. Überzeugend ist das nicht mehr: Der Putsch, der nicht so heißen darf, hat eben diese Illusion zunichtegemacht.

Was tun? Das Modell des Klientelstaates Ägypten wird von den Ereignissen überholt. Es gab drei Gründe, um die vielen Milliarden, die man an Kairo zahlte, für gut angelegtes Geld zu halten: Das Ägypten der Militärs versprach Stabilität im bevölkerungsreichsten Land der Region. Das Regime bekannte sich zum Kalten Frieden mit dem Nachbarn Israel. Und es bekämpfte den islamistischen Radikalismus.

Alle drei Gründe gelten nicht mehr. In Wahrheit ist Ägypten nicht stabil, sondern ein Unruheherd in der Region, weil die Militärs das Land seit Jahren ausplündern, statt es zu entwickeln. Die Kleptokratie hat das reiche Land zum ökonomischen Pflegefall gemacht, überschuldet und abhängig von internationalen Krediten. Der Frieden mit Israel beruht längst nicht mehr auf jährlichen Schecks aus Washington. Ägypten hat weder das Interesse noch die Möglichkeit, den jüdischen Staat militärisch herauszufordern. Das wissen die Generäle. Schließlich: Den gewalttätigen Islamismus haben die Militärs und Geheimdienstler durch Unterdrückung und Brutalität mitgeformt. Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri, ein Ägypter, hat sein Weltbild in Mubaraks Folterknast gehärtet.

Sollte Amerika sein Geld zurückhalten, bieten sich den Ägyptern schon neue Paten an: Saudi-Arabien hat signalisiert, Ausfälle westlicher Hilfszahlungen sofort auszugleichen. Zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten hat das Königshaus ein Hilfspaket in Höhe von zwölf Milliarden Euro gepackt – zur Unterstützung der Militärjunta. Auch Russland, stets an der Seite der Autokratie, signalisiert Bereitschaft, jene Lücken zu schließen, die westliche Sanktionen hinterlassen würden.

Die Warnung, Ägypten drifte ins antiwestliche Lager ab, wenn der Westen nicht mehr zahle, ist dennoch ein durchschaubarer Erpressungsversuch. Das Regime wird zwar gerne saudische und russische Schecks annehmen, doch langfristig hat das Land keine Chance ohne echte Entwicklung in Freiheit. Rohstoffdespotien sind für Ägypten kein Modell. Das Gas reicht nicht dafür. In Ägypten kann Stabilität langfristig nicht durch Panzer garantiert werden. Das ist die Wahrheit des Aufstands von 2011, die nun niedergewalzt wird.

Die zögerliche Politik des Westens ist damit gescheitert. Indem sie hier ein bisschen Mursi und da ein bisschen das Militär unterstützt hat, bewirkte sie das Gegenteil dessen, was sie wollte: Sie hat die Eskalation befördert, statt sie zu verhindern. Als US-Außenminister John Kerry Anfang August erklärte, die Generäle seien dabei, »die Demokratie wiederherzustellen«, zogen diese den Schluss, dass Amerika sich ihnen nicht entgegenstellen würde. Es gab plausible Gründe für die Zurückhaltung – solange die Hoffnung einer Vermittlung bestand. Nachdem sie enttäuscht wurde, wäre jetzt Klarheit gefordert. Ein Putsch ist ein Putsch, ein Despot ein Despot, und ein Massaker ist ein Massaker.