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Er ist wieder da

 

Na gut. 5.000+ Kommentare unter einem nahezu zwei Jahre alten Blogpost, das gibt mir denn doch zu denken. Irgendwie geht es hier immer noch weiter, auch in meiner Abwesenheit. Selbst nachdem das Blog von den ZEIT Online-Kollegen längst schon wegen Inaktivität von der Website genommen wurde. Es gibt offenbar Redebedarf unter den Verbliebenen. Ich habe ihn eigentlich auch.

Ich will versuchen, die Aktivität hier wieder aufzunehmen, wenn auch sicher nicht in der Frequenz, die mir früher mal möglich war, bevor ich mich der Koordination unserer außenpolitischen Berichterstattung verschrieb. Ich habe gewusst, dass der Job hart werden würde, aber mit einer solchen Ballung von Krisen, die sich wechselseitig verstärken, war nicht zu rechnen.

Ich bin von Woche zu Woche erstaunt, dass immer noch etwas mehr geht. Das vorige Jahr war schon schlimm – mit der Ukrainekrise, der Krim-Besetzung und der Eskalation in Syrien.

Aber dieses nun Gottseidank zu Ende gehende Jahr schlägt dann doch vorerst so manches Dagewesene.

Kaum war ich im Januar wieder am Scheibtisch, kam Charlie Hebdo, die fürchterliche Haft für unsere chinesische Mitarbeiterin Zhang Miao, dann die Wahl in Griechenland, die Eurokrise, Pegida-Märsche, die Eskalation in der Ostukraine, das Minsker Abkommen, Hunderte Tote im Mittelmeer, das Referendum in Athen, die Eroberungen des IS, der Atom-Deal mit Iran, die abermalige Eskalation des syrischen Krieges, in der Türkei der Rückweg ins Autoritäre und der Krieg gegen die Kurden, und schließlich der Massenexodus der Syrer, Iraner, Afghanen und Pakistaner ins gelobte Deutschland. Paris wurde von einer Bande von „gigantic fucking arseholes“ (John Oliver) überfallen, Helmut Schmidt starb, Deutschland trat ein bisschen in den Syrienkrieg ein, und dann errang Marine Le Pen einen ebenso erwartbaren wie schockierenden Sieg bei den Regionalwahlen in Frankreich. Und wir sind noch nicht fertig mit dem Jahr…

Mich treibt das alles um, genau wie viele Leser und Kommentatoren hier. Ich habe ein paar Ideen dazu, viele Unsicherheiten. Es ist eine atemberaubende Zeit.

Vor einigen Wochen hat sich einer der aktivsten Nutzer dieses Blogs mir eine wütende Mail geschrieben.

Hallo Herr Lau,

Ihre Zeitung interessierte sich vor einigen Monaten einmal dafür, woher eigentlich das gesunkene Ansehen der Presse im allgemeinen und das Wort „Lügenpresse“ im besonderen herkommt. Die gefundene Antwort lautete AFAIR, die Presse schriebe eben nicht, woran die Leute eh schon glaubten und ansonsten sei es schlichte Uninformiertheit der Gegner/Skeptiker.

Vielleicht sind Sie ja an der Überlegung interessiert, woran es auch liegen könnte. Bitte sehen Sie mir nach, wenn ich zur Klarstellung grob verkürze:

Die ZEIT August 2015:
Zuwanderung ist grossartig, Deutschland braucht viel mehr davon, da kommen lauter hochqualifizierte Leute und wenn wir Grenzen aufmachen, kommen nie mehr als ein paar hunderttausend, alle andere ist Panikmache und kommt nur von rechtsextremistischen Scharfmachern. Ausserdem kommen da eh nur Syrer und das sind Kriegsflüchtlinge!

Die ZEIT Oktober 2015:
Na gut, Zuwanderung ist nicht völlig unproblematisch, aber 1 Million pro Jahr geht natürlich immer, wir schaffen das locker und wer jetzt 5 Millionen sagt, ist ein Panikmacher und vermutlich ein Rechtsextremist. Na ja, es kommen auch ein paar, sorry, ganz viele andere als Syrer, aber irgendwie ist ja jeder Flüchtling.

(…)

Wenn sich die Presse als Propagandist für (beliebiges einsetzen) einspannen lässt, die „Panikmache“ sich nur Wochen später als Realität herausstellt, alle Befürchtungen aber schon wieder als Panikmache denunziert werden – von wem will der Journalismus eigentlich noch ernst genommen werden? Von denkenden und informierten Leuten eher weniger – und genau so sieht das inzwischen auch der Grossteil meiner (vollständig akademisch vorgebildeten) Berufsbekannten.

Es ist nicht so, als wäre das Ergebnis für mich persönlich noch interessant, das ZEIT Abo ist bereits gekündigt. Ich dachte nur, ich lasse es mal jemanden bei der ZEIT in leitender Position wissen, warum der Journalismus sich mit zunehmender Geschwindigkeit unglaubwürdig macht. (…)

Mit freundlichen Grüssen und den besten Wünschen für Ihre berufliche Zukunft,

(…)

Ich vermute, dass es nicht viel Sinn hat, hier mit Belegen dagegenzuhalten.

Wir haben schon im Frühjahr, als die ganz große Welle noch nicht da war, eine Sonderausgabe zu den Flüchtlingen gemacht, in der Begrenzungsfreunde und Grenzöffner gegeneinander argumentierten. Wir haben unsere Zweifel immer wieder zum Thema gemacht. Wir haben kontrovers diskutiert. Es sind verschiedene, sehr skeptische Artikel in der Zeitung erschienen. Selbst Thilo Sarrazin kam zu Wort (ich hätte darauf verzichten können, nicht sehr erhellend).

Fast alle hier in der Redaktion haben sich in den Monaten bewegt. Es gibt bei uns kaum (noch) maximalistische Positionierungen. Einigermaßen wohlwollende Leser müssten das erkennen können. (Tun sie auch, es geht uns wirtschaftlich sehr gut, wir leiden keineswegs unter Vertrauensverlust, wenn die ökonomische Lage des Verlags ein Indiz ist.) Vielleicht sollten wir Zweifel, Korrekturen, Gegenmeinungen transparenter machen?

Es sind außergewöhnliche Zeiten.Die Wahrheit ist, dass wir hier alle miteinander ringen und auch jeder mit sich selbst selber zu kämpfen hat.  Nur ein paar Beispiele:

Ich bin – selber Flüchtlingskind – dafür, so viele Kriegsflüchtlinge aufzunehmen wie irgend möglich. Gleichzeitig halte ich es für sehr gefährlich, wenn ein Staat oder ein Staatenbund die Kontrolle über seine Grenzen aufgibt.

Ich finde es richtig, einen Deal mit der Türkei über den Schutz der europäischen Grenzen zu machen, fürchte aber, dass der Erdogan helfen wird, seine Präsidialdiktatur auszubauen.

Ich möchte erleben, dass der IS vernichtet wird. Zugleich fürchte ich, dass Deutschland sich mit dem späten Kriegseintritt in eine de facto Allianz mit Putin und Assad begibt – und dass der Westen ebenso planlos wie schon in Afghanistan, Irak und Libyen wieder ins nächste Desaster schlittert.

Ich habe das Atomabkommen mit dem Iran befürwortet, muss aber zur Kenntnis nehmen, dass das Land sich seither zunehmend tyrannisch gegenüber den verbliebenen Oppositionskräften und ungeschützten Minderheiten verhält.

Ich hoffe, dass die islamistische Diktatur in Saudiarabien endlich unter Druck gerät und fürchte doch einen weiteren Staatszusammenbruch in Nahost.

Und so weiter.

Wenn Sie Lust haben, solche Dinge hier in Zukunft wieder mit mir zu debattieren, freue ich mich!