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Nein zu Kindesmissbrauch!

 

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Wie kann man Kinder vor Missbrauch schützen? Darüber sollen von diesem Freitag an Fachleute im Namen der Regierung beraten. Was aber bedeutet Missbrauch? Welche Folgen hat er? Kerstin Stellermann, eine Kinderpsychiaterin, erklärt.

Sicher hast Du in den letzten Wochen oft von „sexuellem Missbrauch“ gehört. Überall – in den Zeitungen, im Fernsehen und im Internet – wurde darüber berichtet. Es war bekannt geworden, dass viele Kinder an Schulen und in katholischen Einrichtungen missbraucht wurden. Die Taten sind schon lange her, doch erst jetzt kam heraus, wie viele Kinder gelitten haben. Darüber sind die Menschen in Deutschland entsetzt. Die Bundesregierung hat für diesen Freitag (23. April) zu einem besonderen Treffen eingeladen: Politikerinnen, Ärzte und Wissenschaftler sollen darüber beraten, wie man Kinder besser schützen kann.
Aber was bedeutet „sexueller Missbrauch“ eigentlich?
Bei sexuellem Missbrauch geht es immer darum, dass Erwachsene etwas mit Kindern machen, was die Kinder nicht wollen. Es geht darum, dass Erwachsene ihre Macht und Stärke ausnutzen, zum Beispiel um Kinder anzufassen, auch wenn es den Kindern unangenehm ist. Es geht den Tätern nicht darum, nett zu sein, sondern sie wollen ein Machtgefühl erleben.
Viele glauben, dass sexueller Missbrauch hauptsächlich passiert, wenn fremde Männer (und selten auch Frauen) Kinder auf der Straße überfallen, entführen und ihnen etwas antun. Das stimmt nur in den wenigsten Fällen: Meist kennen Kinder die Menschen, die sie missbrauchen, schon länger und gut. Das ist gerade das Problem: Die Kinder vertrauen diesen Erwachsenen und erwarten nichts Böses von ihnen.

Viele Leute stellen sich unter Missbrauch vor, dass erwachsene Männer versuchen, mit Mädchen oder Jungen Sex zu haben. Es gehört aber viel mehr dazu: Etwa, dass Erwachsene Kinder zwingen, unangenehme Bilder und Filme (sogenannte Pornos) anzuschauen, oder dass sie die Scheide oder den Penis eines Kindes anfassen. Natürlich muss bei einem Baby, das Windeln trägt, der Po abgewischt werden, das ist normal. Aber kein Erwachsener muss den Penis oder die Scheide eines Kindes küssen – das ist nicht normal.

Wenn Erwachsene Kinder zum Beispiel am Po berühren, um sich selbst gut zu fühlen, dann empfinden manche Kinder das vielleicht gar nicht gleich als unangenehm. Aber auf die Dauer geht es ihnen meist schlecht damit. Man kann in diesem Zusammenhang von »guten« und »schlechten« Gefühlen sprechen: Mit dem Papa zu toben oder vom Cousin am Bauch gekitzelt zu werden macht ein gutes Gefühl. Von der Tante, die man gar nicht mag, überall geküsst zu werden, macht ein schlechtes Gefühl.
Viele Kinder haben Angst, Ärger zu bekommen, wenn sie einem Erwachsenen nicht gehorchen. Aber Kinder haben das Recht, selbst über ihren Körper zu bestimmen! Sie dürfen „Nein!“ sagen! Sexueller Missbrauch ist gegen das Gesetz, und kein Erwachsener – weder Vater noch Mutter, Lehrer oder Pastor – darf Kindern so etwas antun. Das wissen Erwachsene auch ganz genau.
Oft sind Kinder, die missbraucht werden, sehr verunsichert. Der Täter sagt seinem Opfer zum Beispiel, dass er all die seltsamen Dinge nur mit ihm mache, weil es ein ganz besonderes Kind sei. Oder er gibt dem Kind ein Geschenk. Aber Geschenke sind es nur dann, wenn man nichts dafür tun muss. Wenn für das Geschenk eine Gegenleistung erwartet wird, ist das eine Erpressung und ebenfalls gegen das Gesetz. Manche Täter erzählen ihren Opfern auch, sie hätten nun ein Geheimnis miteinander – und das Kind dürfe auf keinen Fall davon erzählen.
Dadurch, dass sexueller Missbrauch oft durch Menschen verübt wird, die die Kinder gut kennen, ist es sehr schwer für sie, darüber zu sprechen. Die Opfer wissen nicht, ob es wirklich nicht in Ordnung war, dass der Fußballtrainer ihnen in die Hose gefasst hat. Oder sie wollen ihre Mutter nicht traurig machen, indem sie erzählen, dass sie vor dem Opa Angst haben. Manchmal können sich Erwachsene auch wirklich nicht vorstellen, dass jemand, dem sie selbst vertrauen und den sie nett finden, einem Kind etwas so Schlimmes antut. Das ist dann für ein Kind, das mutig genug war, von dem sexuellen Missbrauch zu erzählen, eine schreckliche Erfahrung. Und ihm fehlt vielleicht der Mut, noch einmal mit einem anderen Erwachsenen (der Lehrerin oder einem Verwandten) darüber zu reden. Einige Kinder erzählen ihre schrecklichen Erlebnisse lieber anderen Kindern. Die Freunde wissen aber auch oft nicht, was sie tun sollen. Wenn Du von einem Kind weißt, das sexuellen Missbrauch erlebt, dann rede mit einem Erwachsenen, dem Du vertraust. Auch wenn das Kind Dich gebeten hat, es niemandem zu erzählen. Wenn jemand in Gefahr ist, ist es richtig, Hilfe zu holen – und hat nichts mit Petzen zu tun!
Wer als Kind von Erwachsenen gequält wird, leidet darunter oft noch Jahre später. In den Nachrichten wurde in den vergangenen Wochen viel von Erwachsenen berichtet, die als Kinder schreckliche Erlebnisse hatten. Oft hieß es, dass diese Menschen „traumatisiert“ seien. Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde – die kann körperlich sein, wie ein gebrochener Arm oder ein aufgeschlagenes Knie, aber auch seelisch. Wenn Ärzte von einem seelischen Trauma reden, meinen sie die Wunden, die durch schlimme Erlebnisse entstanden sind. Das können Situationen sein, in denen man sehr große Angst gehabt hat.

Wenn Kinder sexuell missbraucht werden, haben sie oft furchtbare Angst, und das verwundet ihre Seele. Man sieht es zwar nicht, wie man ein aufgeschlagenes Knie sehen könnte, aber auch eine seelische Wunde schmerzt. Nicht alle Kinder reagieren in der gleichen Weise auf seelische Verletzungen, deswegen ist es sehr schwer zu erkennen, wer sexuell missbraucht wurde. Manche Kinder fühlen ihre Wunde als Traurigkeit, andere sind sehr wütend. Einige leiden an Bauch- oder Kopfschmerzen, bekommen Albträume oder machen sich plötzlich wieder in die Hose. Manche Kinder können an nichts anderes als an das schlimme Erlebnis denken, sodass sie in der Schule kaum lernen können.
Für diese Kinder ist es wichtig, Hilfe zu bekommen. Wenn man sich den Arm gebrochen hat, geht man zum Arzt. Es gibt auch Ärzte für seelische Wunden, die nennt man Therapeuten. Therapeuten können Wunden nicht verschwinden lassen, aber sie können dabei helfen, dass die Wunden verheilen und sich Narben bilden, mit denen man weiterleben kann.

Kerstin Stellermann ist Ärztin und Therapeutin. Sie leitet an der Universitätsklinik Hamburg eine Sprechstunde für Kinder und Jugendliche, die seelische Wunden durch sexuelle, aber auch andere Gewalt erfahren haben