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KinderZEIT Filmedition: Wer darf Träume haben?

 

© KinderZEIT Filmedition

Eine Kinderbande schlägt sich allein durchs Leben, angeführt von der starken Zora 

Von Susanne Gaschke

Saftige Koteletts, kross gegrilltes Hühnchen, Berge von glitzernden Sardinen und Marktstände mit den saftigsten Trauben, Pfirsichen und Tomaten – in diesem Film geht es dauernd um Essen. Das hat damit zu tun, dass seine Helden ständig hungrig sind. Wer nichts hat, wie die Waisenkinder Zora, Pavel, Druro und Nico, der muss dauernd ans Essen denken. Und daran, woher der nächste Bissen kommen soll. Für die Bande der Roten Zora – »Uskoken« nennen sie sich, nach den »tapfersten Seefahrern der ganzen Adria« – war das bisher nie eine große Frage: Sie stahlen, statt zu hungern. Was sollten sie sonst auch tun?
Als der zwölfjährige Branko sich ihnen anschließt, gibt es zum ersten Mal Streit über das Stehlen: Besonders dass sie den alten Fischer Gorian beklaut haben, der selbst arm ist, verurteilt Branko. Der Junge lebt noch nicht lange auf der Straße, erst seit seine Mutter gestorben ist. Und in seiner Familie hat Branko gelernt: Nur weil man arm ist, darf man nicht einfach stehlen oder Gesetze brechen. Außerdem hat Gorian ihm geholfen, als sonst niemand für ihn da war.

Die anderen Jungen der Bande reagieren höhnisch auf Brankos Skrupel: Was für ein Weichling hat sich ihnen denn da zugesellt? Und Zora, die Bandenchefin, wird richtig böse: Er solle ihr kein schlechtes Gewissen einreden, schimpft sie, schließlich sorge sie sich von morgens bis abends um das Überleben der Gruppe. Branko bleibt trotzig: Von dem Huhn, das die Uskoken Gorian weggefangen haben, bekommt er keinen Bissen hinunter. Irgendwann hat Zora Mitleid mit ihm und bringt ihm ein paar gegrillte Kartoffeln. »Die sind nicht von Gorian«, sagt sie, »die sind von Karaman. Und das ist kein armes Schwein. Das ist ein reiches Schwein.« Dazu lächelt sie ihr strahlendes, unwiderstehliches Zoralächeln. Und Branko nimmt die Kartoffeln.

Jemand müsste diesen Kindern helfen, die keine Eltern mehr haben, keine Schulausbildung, kaum Hoffnung auf eine Arbeit. Aber in der Zeit, in der dieser Film spielt, im Kroatien der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, gibt es kein Jugendamt, keine Fürsorge der Gesellschaft für die Schwachen. Wer stiehlt, gehört ins Gefängnis, und das ist ohnehin der beste Platz für die Streunerkinder, finden der Bürgermeister der kleinen Fischerstadt und ihr mächtigster Bürger: das »reiche Schwein«, der Fischhändler Karaman. Zora ist die Einzige, die sich um die verlorenen Kinder kümmert, dabei ist sie selbst noch ein Mädchen. Den kleinen Pavel hat sie in einer Kiste am Hafen gefunden und durchgefüttert – inzwischen träumt er davon, der stärkste Mann der Welt zu werden. Nico sehnt sich nach Filmstars, Druro ist aus dem Heim ausgerissen, um irgendwo mit Tieren auf dem Lande zu leben. Und der Neue, Branko? »Ich will Geiger werden«, sagt er mit fester Stimme und denkt an seinen verschwundenen Musikervater. »Noch so ’n Träumer«, sagt Zora halb liebevoll, halb abschätzig: »Ich bin froh, wenn wir nicht hungern müssen.«

Der Film macht sehr deutlich, wie es in einer Gesellschaft ohne Gerechtigkeit zugeht: Träumen dürfen die Armen wohl, aber sie haben wenig Aussicht darauf, dass diese Träume wahr werden. Über diese Not kann auch die wunderschöne kroatische Sommerlandschaft nicht hinwegtäuschen, nicht das blaue Meer und nicht die romantische »Uskokenburg«, in der die Kinder ihren Unterschlupf haben.

Dort werden sie eines Tages von der Staatsgewalt aufgespürt, und nur eine wilde Flucht zum alten Gorian, der sie versteckt, beschützt und ihnen Arbeit gibt, kann sie retten. Gorian ist überhaupt der einzige Erwachsene, der sich um Kinder kümmert – »weil Arme oft mehr Herz haben als Reiche«. Und Gorian, der selbst unter den Schikanen des reichen Karaman zu leiden hat, ist es auch, der den Gemeinderat schließlich davon überzeugt, die Zorabande nicht weiter zu verfolgen. Für Branko und Zora geht die Sache besonders gut aus, denn sie bleiben bei Gorian (den der Schauspieler Mario Adorf so unerschütterlich spielt, dass jedes Kind sich zu ihm flüchten würde). Und so kann Zora Branko eines Tages stolz ein Gesetzbuch zeigen: »Ich will Richterin werden«, sagt die Ex-Uskokin. »Aber du kannst ja nicht mal lesen«, wendet Branko ein. »Ja – lern ich einfach, glaubst du nicht?«, sagt sie. Und lacht.

Die Rote Zora
Deutschland/Schweden 2007
95 Minuten
empfohlen ab 6 Jahren