Warm und gelb kriecht der Morgen in Zinnobers Wohnung
hinein. Das Eichhörnchen wacht auf und reibt sich die Augen.
Dann, als sie so blankgeputzt sind wie ein Paar kunstlederner
Hochzeitsschuhe, hat Zinnober einen klaren Blick auf die Wand
gegenüber. Und genau dort hängt ein Zettel, auf den er
am Abend zuvor vorsichtshalber etwas geschrieben hat.
Weil er so vergesslich ist. Und weil er abends immer die besten
Ideen hat. Zinnober schlurft zur Zettelwand und liest:
»Morgen dringend verreisen! Sommer sonst langweilig!«
Na klar! Verreisen!
Zinnober frühstückt schnell anderthalb Eicheln, er muss sich
beeilen. Schließlich ist aus morgen über Nacht heute geworden,
höchste Zeit also. Außerdem schreibt sich eine Reise-Einpackliste
nicht von allein! Und ohne die würde er ganz bestimmt seine
Zahnbürste vergessen.
Zinnober schnappt sich Zettel und Stift, spannt seine Hängematte
zwischen zwei Birken und legt sich hinein. Wie herrlich alles ist!
Der Tag riecht nach Sonnencreme und klingt ein bisschen nach
Amseln. Zinnober schreibt: Strohhut, aber eigentlich schreibt
er es gar nicht, denn schon nach dem ersten Buchstaben ruft
jemand: »Quick-quick-quick!« Zinnober weiß, was das bedeutet.
Spechtbesuch. Und das ist gut. Über Spechtbesuche hat er sich
schon immer gefreut.
Zinnober lädt seinen Freund in die Hängematte ein,
und zusammen schaukeln und reden und lachen sie,
dass es nur so wackelt. Als der Specht gegen Mittag
weiter muss, steht auf Zinnobers Zettel nichts als
ein einziger Buchstabe.
Jetzt hat Zinnober endlich Zeit zum Schreiben. Langsam füllt sich sein
Zettel. Mit Strohhut, Kamm und
Sonnenbrille, mit Luftmatratze,
Lieblingslied und – Post! Post!
Mit Post? Ach so, die Brieftaube.
Die Taube lässt einen Brief in die Hängematte fallen, und der
ist so schwer, dass Zinnober gleich wieder zu schaukeln beginnt.
Der Brief ist von den Maikäfern, die ein paar Wälder weiter
einen Tanzkurs besuchen. Jeder Käfer hat eine Seite geschrieben,
und alle Seiten sind so lustig, dass Zinnober vor Lachen gar
nicht merkt, wie die Stunden vergehen. Dann merkt er es doch.
Er merkt es, weil seine Tante mit einem großen Eichelkuchen unter
seiner Hängematte steht und ruft: »Zinnober! Zeit zum Kaffeetrinken!«
Zinnober erschrickt und wird ein bisschen zinnoberrot.
Oh nein! Heute ist der Geburtstag seiner Tante, und den hat er glatt vergessen, obwohl er in den letzten Monaten
wirklich immer wieder daran gedacht hatte. Ehrenwort!
Aber seine Tante sagt: »Macht nichts, ich war sowieso
gerade in der Nähe und habe nur aus Versehen einen Kuchen dabei!«
Erleichtert gratuliert Zinnober seiner Tante und macht sich
dann über den Kuchen her. Krümel für Krümel vergeht die Zeit,
und schon wieder merkt Zinnober das überhaupt nicht.
Und plötzlich, herrje, plötzlich ist schon wieder Abend. Zinnobers Tante muss zum Gymnastikkurs und verabschiedet sich. Jetzt hätte Zinnober endlich Zeit, um seine Liste weiterzuschreiben und danach zu verreisen. Aber auf einmal ist da diese Müdigkeit, und selbst die Birkenblätter gähnen schon. Er zuckt mit den Achseln und bringt die Hängematte zurück in seine Wohnung. Vor dem Zettel an der Wand bleibt er stehen, reibt sich wieder die Augen und unterstreicht dann »Morgen dringend verreisen!« mit einem dicken Rotstift. Die anderen Worte streicht er fröhlich durch. Sommer sonst langweilig? Von wegen!
Autorin Susan Kreller, Jahrgang 1977, lebt in Bielefeld, das viel
schöner ist, als gemeinhin angenommen wird. Sie hat
Erzählungen und Gedichte in Anthologien und
Zeitschriften veröffentlicht.
Illustratorin Antje Drescher wurde 1972 in Rostock geboren, studierte an
der FH Hamburg Illustration und arbeitet seit 1999 für
verschiedene Verlage imKinder- und Jugendbuchbereich.
www.antje-drescher.de
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Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen!