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Schiedsrichter in Rot

 

Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts - Richter in Rot

Ist es fair, wie viel Geld Arbeitslose vom Staat bekommen? Über Fragen wie diese wachen die Richter des Bundesverfassungsgerichts – die höchsten Entscheider im Land

Von Heinrich Wefing

Wenn Kinder sich so richtig zoffen, dann kommt hoffentlich irgendwann ein Erwachsener, zum Beispiel ein Lehrer oder die Eltern, und schlichtet den Streit. Wenn sich Erwachsene in die Haare kriegen, über Geld zum Beispiel, über eine Scheidung oder über die Miete für eine Wohnung, dann gehen sie vielleicht zu einem Gericht. Dort sitzen Richter – Männer und Frauen in schwarzen Gewändern, deren Beruf es ist, Streit zu schlichten. Sie reden mit denen, die sich streiten, sie schauen in die Gesetze, in die Spielregeln also, die die Politiker aufgestellt haben. Und am Ende sprechen sie ein Urteil.

Wer aber passt eigentlich darauf auf, dass sich auch die Politiker an die Regeln halten? Wer kontrolliert, ob die Gesetze fair sind? Und wer schlichtet den Streit, wenn sich Politiker mit Politikern streiten? Oder Bürger mit Politikern?

Dafür gibt es in Deutschland 16 Männer und Frauen, im Moment drei Frauen und 13 Männer, um genau zu sein. Manchmal sind diese Leute im Fernsehen zu sehen, in langen Umhängen aus roter Seide, mit roten Mützen auf dem Kopf und weißen Tüchern um den Hals. Zusammen sind sie das Bundesverfassungsgericht. Dieses Gericht ist etwas sehr Besonderes. Es sitzt in einem hellen Haus aus Glas und Stahl unter alten Bäumen in einem Park mitten in Karlsruhe in Baden-Württemberg.

Die Aufgabe der Verfassungsrichter ist es, den Politikern bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen – und einzugreifen, wenn etwas falschläuft. Wenn die Spielregeln der Politik missachtet werden. Oder wenn ungerecht regiert wird.

Wie der Staat zum Beispiel Menschen, die keine Arbeit finden können, mit Geld hilft, damit sie nicht verhungern und ihre Kinder in die Schule schicken können – das fanden die Verfassungsrichter gar nicht in Ordnung. Die Regeln seien unklar und schwer zu verstehen. Deshalb musste die Bundesregierung jetzt ein neues Gesetz über diese Hilfen schreiben, die kurz »Hartz IV« genannt werden. Und wahrscheinlich werden die Richter bald noch einmal überprüfen, ob das neue Gesetz besser ist als das alte. Viele Menschen in Deutschland finden nämlich auch das neue Gesetz unfair.

Das Besondere am Bundesverfassungsgericht ist, dass sich eigentlich jeder Bürger bei den Richtern in Karlsruhe beschweren kann. Das war bei »Hartz IV« so, aber auch beim Rauchverbot vor ein paar Jahren. Fast alle Parteien in Berlin und in den 16 Bundesländern waren der Meinung, dass das Rauchen in Restaurants und Kneipen verboten werden sollte. Die meisten Eltern fanden die Idee gut, und auch viele Ärzte waren dafür, weil Zigarettenrauch sehr schädlich ist. Also wurde das Rauchen in Gaststätten verboten.

Bis eine Kneipenwirtin aus Berlin kam, eine ziemlich rundliche, fröhliche Frau, die sagte: Ich finde das nicht gut. Ich finde, dass in kleinen Kneipen, in denen nur Bier getrunken und geraucht wird, auch weiter Zigaretten erlaubt sein sollten. Die Wirtin hatte Angst, dass ihre Kneipe pleitegehen würde, wenn dort niemand mehr qualmen dürfte. Also beklagte sich diese Frau aus Berlin beim Verfassungsgericht in Karlsruhe. Die Richter dort dachten lange über die Worte der Wirtin nach. Sie sprachen mit Fachleuten. Und sie schauten in das Grundgesetz.

Das Grundgesetz ist so etwas wie die Hausordnung für Deutschland, in der geregelt wird, wie das Land funktionieren soll. Darin steht zum Beispiel, dass die Menschen in Deutschland frei sein sollen. Und dass der Staat sich nicht in alles einmischen darf. Also entschieden die Richter am Ende, dass die Wirtin recht hat. In ihrer Kneipe, und in vielen anderen auch, darf deshalb weiter geraucht werden.

Das nun fanden viele Menschen aber auch nicht gut. Es hatten doch alle Parteien und die meisten Politiker für das Rauchverbot gestimmt, und viele Experten hielten es für richtig. Darf sich das Verfassungsgericht darüber hinwegsetzen?

Die einfache Antwort lautet: Ja. Das dürfen die Richter. Denn auch das steht im Grundgesetz: Das Bundesverfassungsgericht hat das letzte Wort. Und das hat sich schon häufig bewährt. Politiker müssen oft wahnsinnig viel arbeiten. Sie wollen Wahlen gewinnen. Und sie müssen sich eigentlich immer mit vielen anderen Leuten einigen – die meistens nicht genau ihrer Meinung sind. Dabei entstehen manchmal Gesetze, die Fehler haben, die ungerecht sind oder die einfach nicht funktionieren. Da ist es gut, wenn es jemanden gibt, der die Gesetze noch einmal genau unter die Lupe nimmt und eingreift, wenn etwas schiefläuft.

Denn selbst wenn viele Menschen etwas gut finden, muss es noch lange nicht gut sein . So war es ja zum Beispiel, als die Nazis in Deutschland herrschten und Unschuldige verfolgten. Manchmal müssen die Schwachen oder die wenigen, die anderer Meinung sind als alle anderen, geschützt werden. Auch darauf achtet das Bundesverfassungsgericht. »Hüter der Verfassung« werden die Richter häufig genannt. Man könnte auch sagen: »Hüter eines Schatzes«. Denn sie passen auf etwas sehr Wertvolles auf. Darauf, dass die Regeln eingehalten werden – von allen.