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Zum Lesen verführen

 

Wie entscheidet ein Buchhändler, welche Geschichten er verkaufen will? Und kennt er selbst
alles, was in seinem Laden steht?

Von Claudia Kniess mit einer Illustration von Birgit Lang

Vier Milliarden Euro für 400 Millionen Bücher haben die Menschen in Deutschland im vergangenen Jahr ausgegeben. Würde man diese Bücher auf alle Menschen im Land verteilen, dann hätte jeder etwa fünf Stück bekommen. Etwas mehr als die Hälfte ihrer Bücher kaufen die Deutschen in Buchhandlungen. Dort sitzen, so stellen wir es uns vor, bebrillte, kauzige, aber meist sehr freundliche Buchhändler in großen Ohrensesseln. Umgeben sind sie von wackeligen Bücherstapeln. Ab und an verkaufen sie einigen auserwählten Kunden anspruchsvolle Werke …

So ist es natürlich nicht wirklich. Nicht ganz. Es gibt in Deutschland etwa 4000 Buchhandlungen, sehr große mit Rolltreppen und riesigen Schaufenstern, aber auch ganz kleine. Eine solche kleine Buchhandlung ist die Bücherstube von Irene Menninger in Heppenheim, das liegt zwischen Heidelberg und Darmstadt. Für Irene Menninger (bebrillt, freundlich, aber ohne Ohrensessel) ist die Zeit nach Weihnachten und im Juni besonders spannend: Da verraten nämlich die Buchverlage, welche neuen Titel erscheinen werden. Irene Menninger blättert dann neugierig in den Katalogen und in Leseexemplaren. Das sind Bücher, die man noch nicht kaufen kann, die aber für Buchhändler und Journalisten schon ein paarmal gedruckt werden, um so für die Titel zu werben. Irene Menninger muss sich dann entscheiden, welche und wie viele Bücher sie bei den Verlagen einkauft.

»Wir bestellen, was ich und meine Mitarbeiterinnen gelesen haben und mögen«, sagt die Buchhändlerin. »Jeder darf nach seiner Neigung und für einen bestimmten Betrag einkaufen.« Dabei muss Irene Menninger genau überlegen, welche Themen ihre Kunden interessieren – und sie muss schätzen, wie viele Exemplare sie wohl verkaufen kann.

»Wir reagieren selbstverständlich auch auf Trends«, sagt sie. Wenn gerade Geschichten über Vampire total gefragt sind, dann wäre es ja Unfug, nur Bücher über Pferde in den Laden zu stellen. Schließlich muss Irene Menninger von den Bücherverkäufen leben können – und sich gegen die mächtige Konkurrenz behaupten. Immer mehr Menschen kaufen inzwischen in den Filialen großer Buchhandelsketten – oder sie bestellen im Internet. Jedes fünfte Buch wird heute online verkauft. »Wir strampeln dagegen an«, sagt Irene Menninger, »viele unserer Kunden kommen seit Jahren, wir kennen ihre Lesevorlieben und können sie deshalb ganz persönlich beraten.«

Isabella Merk hingegen kennt ihre Kunden meist nicht persönlich. Das kann sie auch gar nicht. Denn sie arbeitet in einer der größten Buchhandlungen Deutschlands, der Filiale einer Kette, am Münchner Marienplatz. Etwa 100 000 Bücher gibt es in dem Laden – und jeden Tag kaufen unglaublich viele, unglaublich verschiedene Menschen ein. In einem derart großen Geschäft ist nicht mehr eine Person für alles zuständig. Isabella Merk zum Beispiel leitet die Kinder- und Jugendbuchabteilung. Was sie verkauft, hat sie nur teilweise selbst bei den Verlagen bestellt. Bei großen Buchhandelsketten gibt es Mitarbeiter, die für alle Filialen einkaufen. Weil so eine Kette viel mehr Exemplare eines Titels bestellt als eine einzelne Buchhandlung, kann sie mit den Verlagen besser handeln, bekommt die Bücher günstiger. Da diese aber überall zum gleichen Preis verkauft werden müssen (das ist durch die »Buchpreisbindung« gesetzlich geregelt), erzielen große Buchhandlungen mehr Gewinn als kleine.

Doch viele Bücher bedeuten auch viel Arbeit. Wenn neue Kisten am Marienplatz ankommen, braucht Isabella Merk Unterstützung: In den frühen Morgenstunden legen Helfer die Bücher vor die Regale. Frau Merk und ihre Kollegen räumen sie später ein. Wie sie sortieren, ist enorm wichtig, damit die Kunden sich schnell zurechtfinden: Erzählbände ordnen sie nach Autoren, Sachbücher nach Verlagen, dazu wird alles farblich nach Altersstufen markiert. Einige Bücher werden zudem auf Tischen ausgelegt. Hier sehen die Kunden sie schneller – und kaufen mehr. Häufig steht schon Monate vorher fest, welche Bücher so hervorgehoben werden: Was ist Trend? Hat ein Verlag ein Jubiläum, ein Autor Geburtstag? Tagsüber berät ein Buchhändler seine Kunden, versieht die Bücher mit Preisen, sucht alte und kaputte Exemplare aus den Regalen und schickt sie zurück (»remittieren« nennen Fachleute das) und räumt sehr viel auf.

Wenn der Laden schließt, ist die Arbeit aber meist nicht getan. Abends und an den Wochenenden lesen diese Büchermenschen – zwei bis drei Titel und mehr pro Woche. »Was ich von Herzen empfehlen möchte, muss ich ja kennen«, sagt Isabella Merk. Besonders Kinder berät sie gern. »Die sind experimentierfreudig, sie kaufen auch ungewöhnliche Geschichten. Erwachsene wollen für Kinder oft Klassiker oder Bücher, die in Zeitungen empfohlen werden.«

Dass viele Kunden dann doch zu Harry Potter oder Twilight greifen und nicht zu einem unbekannten, aber tollen Titel eines kleinen Verlags, ärgert Isabella Merk nicht. »Hauptsache, wir bringen Lesekultur an die Leute, erst mal egal was für eine«, sagt sie. Außerdem könne sie den Erfolg eines Titels ein wenig beeinflussen: Manche Bücher habe sie so häufig empfohlen, dass sie sich ein bisschen mit dafür verantwortlich fühle, dass es Bestseller wurden. Irene Menninger in ihrer kleinen Bücherstube verkauft gar nicht so viele Bücher, dass sie ein einzelnes zu einem Bestseller machen könnte. Aber auch sie zeigt einige Titel besonders verlockend in den Schaufenstern und auf Tischen – und weiß, was für einen Unterschied das bedeuten kann. »Manchmal steht ein Buch ewig im Regal und keiner will es«, sagt sie. »Stellt man es an einen guten Platz, findet es oft einen Käufer.« Am allerliebsten verhelfen beide, Isabella Merk und Irene Menninger, ihren Kunden zu einem neuen Lieblingsbuch. Das Wichtigste sei nämlich, dass die Menschen erfahren, wie viel Spaß das Lesen machen kann, sagen sie.

Viele Lese-Empfehlungen findest Du im Kinder- und Jugendbuch Spezial in der aktuellen ZEIT ab Seite 55