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Abhängen macht schlau!

 

Diese vier hängen in den Ferien zu richtig ab und tun nichts!/ © Silke Weinsheimer

Wenn wir nichts tun, wie jetzt in der Ferienzeit, arbeitet unser Gehirn auf Hochtouren: Es ordnet, sortiert und spuckt die besten Ideen aus

Von Silke Stuck (Mitarbeit: Magdalena Hamm und Katrin Hörnlein)

So, wie auf dem Bild, hängt man richtig rum! Aber Achtung: Unsere Fotografin Silke Weinsheimer hat getrickst. Nicht nachmachen!

He, Du! Ja, Du! Hast Du mal kurz Zeit? Vielleicht so zehn Minuten. Wie, das ist Dir zu lange? Du willst stattdessen lieber kurz den Fernseher einschalten? Mal eben einen Freund anrufen? Oder zehn Minuten abhängen? Okay, abhängen lassen wir gelten. Hier geht es nämlich um Zeit. Besser gesagt ums Zeithaben. Ums Viel-Zeit-Haben. So wie Du gerade (oder sehr bald) in den großen Ferien. Eine Masse freie Minuten und Stunden und Tage.

Falls Du oder Deine Eltern oder Lehrer Angst haben sollten, dass Du in den Ferien alles vergisst, was Du im vergangenen Schuljahr gelernt hast, kannst Du sie beruhigen. Denn in den nächsten Wochen passiert in Deinem Gehirn mehr, als Du Dir vorstellen kannst. Und zwar genau dann, wenn Du am allerwenigsten tust. Deshalb solltest Du auf keinen Fall die Ferien mit Vokabelwiederholen und Matheformelpauken vollstopfen.

Dein Gehirn räumt in der freien Zeit nämlich richtig auf. Es tut etwas Ähnliches wie Deine Eltern, wenn sie liegen gebliebene Papierberge auf ihrem Schreibtisch ordnen. Dann kannst Du einen geschäftigen Elternteil zwischen vielen Papierstapeln, Lochern und Aktenordnern beobachten. Ist alles weggeräumt, hat der fleißige Sortierer meist ziemlich gute Laune, weil endlich wieder alles an seinem Platz ist und nicht ewig gesucht werden muss.

Wenn Du Deinem Gehirn eine Pause gönnst, ordnet es auch – all die Dinge, die den ganzen Tag auf Dich einprasseln. Manchmal sortiert es sie um, packt sie an einen besseren Platz, wo Du sie besser wiederfindest, also erinnerst. Das können Englischvokabeln genau so sein wie ein neuer Skateboard-Trick. Vieles davon macht das Gehirn im Schlaf, aber bei all dem, was Du am Tag so lernst und erfährst, lohnt es sich, dem Kopf mehr Auszeiten zu gönnen.

Dass unser Gehirn genau dann sehr geschäftig ist, haben Wissenschaftler vor zehn Jahren übrigens durch Zufall herausgefunden. Der US-amerikanische Hirnforscher Marcus Raichle hatte sich damals Freiwillige in sein Labor eingeladen, um ihre Hirnaktivität zu messen, während sie zum Beispiel Aufgaben lösen sollten. Raichle wollte wissen, welche Teile des Gehirns dann arbeiten – das erkennt man daran, welche Hirnregion besonders stark durchblutet wird. Zunächst sollten die Freiwilligen an gar nichts denken. Raichle ging davon aus, dass im Hirn dann nicht viel passiert. Aber von wegen, da geschah eine Menge: Etliche Teile des Gehirns wurden stark durchblutet, waren also fleißig bei der Arbeit.

Allerdings waren es andere Hirnregionen, als die, die beim Aufgabenlösen aktiv sind. Ähnliches kannten Wissenschaftler bis dahin nur aus der Schlafforschung. Was tut unser Gehirn also, wenn wir vermeintlich nichts tun? Vermutlich dasselbe, wie wenn wir schlafen: Es ordnet, sortiert, räumt auf.

Aber wann macht man das eigentlich, so richtig chillen? Schau doch mal auf Deinen Stundenplan vom letzten Schuljahr. Und zwar auf die unteren Spalten, die für die Nachmittage. Was war da bei Dir los? Gitarre-Hockey-Tennis-Schwimmen-Kunstkurs-Holzarbeit-Judo-Englisch-Trommeln-Ballett-Chinesisch? So was in der Art? Oder steht da auch mal Nichtstun-Zeit? Im Garten rumliegen und Löcher in die Luft starren? Rumhängen wie ein Faultier (zumindest fast, denn die können bis zu 14 Stunden im Baum hängen, ohne sich zu rühren)?

Eine Art Faultiertag gab es in den USA Anfang dieses Jahres: Am »Nationalen Nichtstun-Tag« durften die Leute essen, trinken, schlafen und auf die Toilette gehen. Mehr nicht, nicht einmal viel nachdenken. Wenn Du das mal ausprobierst, wirst Du merken, dass es nicht leicht ist, solch einen Tag herumzukriegen. Oder kannst Du gut einfach die Zeit verstreichen lassen? Rufst Du nicht schnell: »Mir ist so langweilig!«?

Denn das ist das Blöde am Nichtstun, oft hat es die Langeweile im Gepäck – und die ist wohl bei niemandem sehr beliebt. Es ist ja auch kein schönes Gefühl, wenn es einen plötzlich überfällt. Man wird ganz zappelig. Und ausgerechnet dann ist meistens kein Freund da, kein spannendes Buch, es kommt nichts im Fernsehen, wahrscheinlich hast Du auch gerade jetzt noch Computerverbot. Der Rest der Familie ist natürlich schön beschäftigt. Nur Du steckst in einer Zeitblase, die einfach nicht platzen will. Unerträglich!

Unerträglich gut! Das würde jedenfalls Manfred Spitzer sagen. Er ist Gehirnforscher an der Universitätsklinik in Ulm und sagt: Abhängen macht sogar schlau. Immer dann nämlich, wenn man an nichts denkt oder nichts tut, macht das Gehirn sich fit, um mehr leisten zu können. Das bedeutet zugleich, dass, wenn wir zu viel tun, unser Gehirn zwar funktioniert, logisch, allerdings nicht optimal. Und: »Wenn wir uns gelangweilt fühlen, arbeiten im Gehirn auch Bereiche, die für Kreativität und Intelligenz zuständig sind«, sagt Spitzer. Vielleicht kennst Du das ja: Gerade langweilst Du Dich noch elendig herum, und plötzlich kommen Dir ganz tolle Gedanken, Du malst, schreibst oder bastelst irre Sachen.

Viele großartige Erfindungen sind so entstanden, und nicht etwa, weil irgendein Forscher stundenlang in seinem Labor oder Büro vor sich hin brütete. Dem Chemiker Friedrich Kekulé ist die lange gesuchte Formel für eine chemische Verbindung im Schlaf eingefallen. Und dem berühmten französischen Philosophen René Descartes kamen die besten Einfälle morgens, wenn er noch halb verschlafen im Bett lag.

Wissenschaftler, die sich mit Kreativität (also mit ungewöhnlichen Ideen und guten Einfällen) beschäftigen, raten deshalb, sich in einen Zustand der Leere zu versetzen. Dann kämen dem Menschen die besten Ideen. Den langweiligen Zustand davor, den muss man einfach aushalten.

Genau das ist aber gar nicht so einfach. Wir alle lernen, dass es erstrebenswert ist, viel zu tun, fleißig zu sein, ständig etwas zu erledigen. Besonders Eltern muss man manchmal bremsen. Gut, dass Du nun weißt: Müßiggänger sind die schlaueren Menschen. Das solltest Du allen gestressten Leuten weitersagen.

Ein gutes Vorbild gibt es im Süden Deutschlands. In der Kleinstadt Villingen-Schwenningen hat sich eine Grundschule intensiv mit Zeit beschäftigt. Die Lehrer dort haben verstanden, dass Schüler besser lernen, wenn es weniger stressig zugeht. Eine Aufgabe unter Druck lösen? Sich als Erster melden, damit man drangenommen wird? Das gibt es dort nicht. Stattdessen soll jedes Kind die Zeit für seine Aufgaben bekommen, die es braucht.

»Das heißt aber nicht, dass unsere Schüler sich hier fühlen wie im Urlaub«, sagt Schulleiter Manfred Molicki. Doch sie lernten anders, wenn man sie nicht hetze. »Sie huschen nicht über irgendwas hinweg, nur um schnell fertig zu sein«, sagt der Rektor. Wichtig sei, dass auch die Lehrer selbst sich an Zeit-Regeln hielten. Deshalb hat Molicki Pausen verordnet. »Da schotten wir Lehrer uns ab, hören klassische Musik und reden über alles, nur nicht über die Schule.«

Und wenn man nun nicht das Glück hat, auf die Grundschule von Herrn Molicki zu gehen? Wo bleibt sie denn, die Zeit zum Abhängen, wenn man zwischen Ganztagsschule, Hort, Sportverein und Klavierunterricht hin- und herhetzt? Man muss sie sich nehmen. Zwischendurch mal die Pausetaste drücken. Und dafür ist es wichtig, erst einmal übers Zeithaben nachzudenken. Molicki nennt das »Zeitforscher werden« – in der Schule, zu Hause, bei Freunden. Frag Deine Großeltern zum Beispiel, warum sie meist viel Zeit haben. Verlang von Deinen Eltern eine Erklärung, warum sie sich (und Dich) oft so hetzen. Und überleg Dir selbst, wann Du mal gar nichts tust. Anfangen kannst Du damit jetzt, in den Ferien, wo es so viel freie Zeit gibt.
Aber denk dran – alles ganz in Ruhe!

Und was sagen die Kinder auf dem Foto dazu, wie sie am liebsten abhängen? (Von links nach recht.)

» Rumlaufen und Fußball spielen – so hänge ich ab « Gregor, 10 Jahre

» Ich brauche zum Abhängen auf jeden Fall meine Freunde « Salome, 11 Jahre

Abhängen heißt für mich, nur das zu machen, worauf ich Lust habe « Emil, 10 Jahre

» Wenn ich abhänge, sitze ich einfach rum, ganz ohne Hektik « Anna, 12 Jahre