Dietlof Reiches Detektivkrimi erzählt von mittelalterlichen Gräueltaten. Heraus kommt lebendige Geschichte
Von Christian Staas
Die Wiederkehr des Vergangenen ist das große Thema dieses Autors. Machtvoll ruft sich in Dietlof Reiches Romanen Vergessenes und Verdrängtes in Erinnerung. In Geisterschiff schleichen die Untoten einer Schiffsbesatzung durch die Familienhistorie der Hauptfiguren. In Keltenfeuer wird die Frühzeit eines hessischen Dorfs unheimlich lebendig. Ähnliches geschieht in der Hexenakte – einem Krimi, dessen einzige Leiche mehr als 400 Jahre alt ist.
Der Tatort, das schwäbische Rottlingen, ist zwar ein erfundener Ort, er ähnelt aber bis ins Detail dem mittelalterlichen Nördlingen bei Augsburg. Auch die Geschichte, verrät der Autor, beruht auf Tatsachen: In Nördlingen starb 1593 eine Frau namens Anna Glauning auf dem Scheiterhaufen, nachdem man ihr mit Beinschrauben das Geständnis abgepresst hatte, eine Hexe zu sein. In der Hexenakte verwandelt Reiche diese historische Figur in Anna Böckhlerin. Und er lässt ihr angedeihen, was den meisten »Hexen« verwehrt blieb – Gerechtigkeit. 40000 bis 60000 Menschen fielen der Hexenverfolgung in Europa zum Opfer. Viele erlitten schwere Folter und starben einen grausamen Flammentod. Wie könnte eine Geschichte darüber anders beginnen als mit einem gellenden Schrei?
Dieser Schrei zerschneidet die Augusthitze, die über Rottlingen liegt. Allerdings hat nur Lennart ihn gehört. Der Junge, der hier in den Ferien eigentlich Mathematiknachhilfe nehmen soll, versucht fortan, den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Geschichte, die sich daraus entspinnt, ist Detektivkrimi und historische Lektion in einem – und nicht frei von allerhand Grusel. Reiche verwandelt das verschlafene Rottlingen in eine Stadt voller Schatten. Da ist der zwielichtige Besitzer des Gasthofs Sonne, da sind ein verschrobener Archivar und dessen rätselhafte Vorgängerin. Und da ist Katja, die wie Lennart Mathe pauken soll und durch Zufall von den verloren geglaubten uralten Protokollen eines Hexenprozesses erfährt. Bald wird Katja und Lennart klar: Hinter den Fassaden der Kleinstadt tobt ein Machtkampf. Und ehe sie sich’s versehen, geraten die beiden zwischen die Fronten.
Reiche verschafft seinem Leser stets einen Vorsprung. Schnell sind die Beweggründe der Bösewichter und ihre Taten zu durchschauen, die Hauptfiguren aber finden alles nur allmählich heraus, indem sie historische Dokumente entziffern. In den besten Momenten erzeugt er dadurch jene »Gespanntheit«, die Alfred Hitchcock Suspense nannte. Und wie Hitchcock, dessen Filme Reiche an vielen Stellen zitiert, geht es auch ihm nicht um die simple Frage »Wer war’s?«, sondern um das Warum.
Anders als sein großes Vorbild Hitchcock sucht Reiche die Motive jedoch nicht in den Abgründen der Seele, sondern in denen der Geschichte. Das lässt die Charaktere manchmal holzschnittartig und ihre Handlungen unplausibel erscheinen. Doch dass er die Macht des Vergangenen mit einer zuweilen arg herbeikonstruierten Story bebildert, spricht nicht gegen die starken Thesen seines Romans: dass die Gegenwart nur verstehen kann, wer die Geschichte kennt. Und dass dieses Wissen eine Waffe sein kann – sei es, um eigene Interessen durchzusetzen, oder aber, um denjenigen das Handwerk zu legen, die versuchen, die Vergangenheit für ihre Zwecke zu benutzen. Auch tragen seine beiden Helden Katja und Lennart über manche kleine Schwäche dieses Buches hinweg.
Zu dessen schönsten Einfällen gehört es, die »Hexe« Anna Böckhlerin durch Rottlingen spuken zu lassen. Immer wieder bemächtigt sich ihre unerlöste Seele der Menschen und spricht aus ihnen mit fremder Zunge. Was die »Fingerhütin« sagt und ruft und was ihr widerfahren ist, müssen Lennart und Katja mühsam aus dem altertümlichen Deutsch des 16. Jahrhunderts übersetzen. Historische Einfühlung, zeigt Reiche, ist harte Arbeit. Das Entschlüsseln der »Hexenakte« ist denn auch der eigentliche Krimi. Leider suggeriert der Autor beharrlich – bei allem sonstigen Kenntnisreichtum –, dass die Hexenverfolgungen etwas Mittelalterliches gewesen seien, wo sie doch ein Phänomen der frühen Neuzeit waren.
Entscheidend ist freilich eine andere Pointe, die der Autor setzt: dass die Geschichte niemandem gehört, sondern wir alle der Geschichte gehören. Wir können mit ihr nicht anstellen, was wir wollen, sondern müssen uns zu ihr verhalten. Und wir erfahren dabei auch manches über uns selbst: So wird die Spurensuche für Lennart zu einer ganz persönlichen Angelegenheit…
Der spannende Krimi „Die Hexenakte“ von Dietlof Reiches ist der achte Band der 15-teiligen neuen Krimiedition für Kinder von der ZEIT. Hier erfährst Du mehr darüber.