Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Die ZEIT Edition „Kinderfilme aus aller Welt“ – Teil 5: Reise mit Raubvogel

 

Gezähmt, aber wild. Der Adler vertraut dem Jungen, lässt sich aber nicht beherrschen/ © 2009 movienet Film GmbH/EuroVideo Bildprogramm GmbH

Weil Bazarbei kein »Adler-Jäger« werden will, läuft er von zu Hause fort – und lernt, was wirklich zählt

Es gibt eine Szene in Die Stimme des Adlers , die dem Zuschauer den Atem nimmt. Sie ist nicht actiongeladen, es geht nicht um eine Flucht vor Wölfen oder Ganoven. Nein, ganz langsam, ganz nah, ganz konzentriert zeigt die Kamera das Gesicht des Nomadenjungen Bazarbei, der seinen Adler liebkost. Haarscharf an den Augen und an den Lippen des Zwölfjährigen vorbei reibt der Raubvogel seinen messerscharfen Schnabel, und Bazarbei, völlig unerschrocken, küsst ihn auf den gefiederten Kopf.

Der Adler ist das zentrale Symbol dieses 2009 als schwedisch-deutsche Gemeinschaftsproduktion gedrehten Spielfilms. Der Vogel steht für die traditionelle Lebensweise der Mongolen, für ihre Jagdmethoden, Feste und Wettkämpfe. Aber der Adler ist es auch, der einen Jungen, der sich eigentlich für den Traditionsbruch und die Moderne entschieden hat, wieder zurück nach Hause bringt.

Gleich zu Beginn der Geschichte muss Bazarbei eine herbe Enttäuschung verkraften: Sein Bruder Khan kehrt der Familie den Rücken, er will die wilden Berggegenden verlassen und in die mongolische Hauptstadt Ulan-Bator ziehen, um dort in den Minen zu arbeiten oder vielleicht in der Industrie. Obwohl der Vater autoritär und patriarchalisch auftritt, unternimmt er keinen Versuch, seinen älteren Sohn zurückzuhalten. Die Konsequenz trifft Bazarbei: Er kann nun eben nicht, wie er es lange gehofft hatte, in die Schule gehen, um lesen und schreiben zu lernen, sondern muss mithelfen, die bitterarme Familie zu ernähren. Der Unabhängigkeitsdsrang des Älteren kettet den Jüngeren umso fester an die Eltern und die Bräuche der Provinz. Und das Schlimmste: Bazarbei soll nun bei seinem Vater lernen, wie man mit dem Adler auf Jagd geht. »Adler-Jäger werde ich auf keinen Fall!«, schreit der Junge, und: »Ich hasse ihn!« Gemeint ist nicht nur das Tier selbst, sondern vor allem das Leben, zu dem die Eltern ihn zwingen wollen.

Den Vater lässt die erbitterte Gegenwehr des jüngeren Kindes nicht unberührt: »Ich fürchte, mit mir stirbt die Tradition in unserer Familie aus«, prophezeiht er düster. Die Mutter tut, was Frauen fast immer tun: Sie beschwichtigt und bemüht sich, offenbar unversöhnliche Positionen doch irgendwie in Einklang zu bringen.

Bazarbei muss zunächst eine Prüfung bestehen, die ihn darauf vorbereitet, für sich selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen – darin nimmt der Film klassische Märchenstrukturen auf. Als der Junge den wertvollen Vogel seines Vaters verliert, weil er gedankenlos mit ihm für die Kamera eines Touristen posiert (ein wenig stolz ist er plötzlich doch auf das kostbare Tier), da flieht Bazarbei von zu Hause. Ihn treiben die Angst vor Strafe, aber auch die Abenteuerlust. Ulan-Bator ist sein Ziel, und er muss zu Fuß dorthin gelangen, denn Wölfe haben sein Pferd gerissen.

Ganz allein ist der Junge an diesem Punkt – in einer Natur, die von überwältigender, karger Schönheit ist. Aber eben auch von großer Wildheit und Unbarmherzigkeit. In diese Einsamkeit, die einen Zwölfjährigen sehr leicht zerbrechen könnte, schickt der strenge Vater ihm mit einer Geste großer Weisheit den zurückgekehrten Adler hinterher: Es ist schließlich sein Kind, das allein herumirrt, und dieses Kind braucht jetzt die Liebe seiner Eltern – egal, was vorgefallen ist. Eine solche Geste ist universell verständlich, sie verlangt keinen kulturellen Kontext. Und Bazarbei versteht. Versteht, dass er seinen Weg nun fortsetzen darf, und zwar mit dem Segen seines Vaters.

Dieses Wissen beflügelt seine Schritte, und während der langen Wanderung fasst er Vertrauen zu dem Raubvogel – und dieser zu ihm. Trotzdem gibt es immer wieder Rückschläge: Der Adler macht dem Jungen unmissverständlich klar, dass er lediglich kooperiert und nicht etwa beherrscht wird. Zudem ist er unterwegs immer wieder mit Anfechtungen konfrontiert: Bazarbei muss, mit der Hilfe eines Mädchens, das er in ihrem Lager kennenlernt, Dieben und Menschenhändlern entkommen; buddhistische Mönche beherbergen die beiden Kinder nach einer lebensgefährlichen Flucht; schließlich versucht ein böser und verkommener Zirkusdirektor, Bazarbei zum Auftritt mit seinem Adler zu zwingen.

Als er da steht, in der Manege, kostümiert als trauriger Clown, und den stolzen Vogel einer gröhlenden Menge zur Belustigung vorführen soll, da wird dem jungen Nomaden klar, dass dieser Vogel und die Traditionen seiner Leute eine eigene Würde haben. Und dass das »moderne« Leben, von dem er träumte, zumindest eine hässliche Rückseite besitzt: die Bereitschaft, Menschen und Tiere zu konsumieren wie Dinge, sie zu Unterhaltungswaren oder »Humankapital« zu machen und lachend über ihre Geschichte hinwegzutrampeln.

An dieser Stelle kann man den Film ein wenig ideologisch finden, denn das primitivkapitalistische Zirkuselend spielt sich ab vor der dramatisch verfallenen Kulisse des postkommunistischen Ulan-Bator. Dies immerhin die Hauptstadt eines untergegangenen Systems, das seinerseits Ideologie und Planerfüllungsziele über den Menschen stellte. Wie um die Botschaft noch einmal zu verstärken, ist Bazarbeis Bruder Khan bei einem Unglück in den schlampig geführten Minen schwer verwundet worden: Seine Wahlfreiheit in puncto Lebensstil hat ihm also alles andere als Glück gebracht. Nach diesen Lektionen ist es nur folgerichtig, dass der jüngere Bruder Bazarbei – wenn vielleicht auch nur vorübergehend – zu seiner Familie in die Berge zurückkehrt.

Freier und sinnvoller, selbstbestimmter und naturnäher als das, was er im Postkommunismus gesehen hat, kommt ihm deren Lebensweise jetzt allemal vor. Und wenn das Ideologie sein sollte, lässt sich damit ganz gut leben. KinderZEIT empfiehlt den Film ab 9 Jahren.

Die neue ZEIT Edition „Kinderfilme aus aller Welt“ umfasst zehn preisgekrönte Spielfilme, die zeigen, wie Kinder in verschiedenen Ländern leben, wovon sie träumen, wofür sie kämpfen. Für Mädchen und Jungen von 6 bis 12 Jahren. Alle Filmen zusammen kosten 89,95 Euro und können hier bestellt werden. Der Reinerlös geht an das Kinderhilfswerk terre des hommes.

1. Whale Rider
2. Tsatsiki – Tintenfisch und erste Küsse
3. Wintertochter
4. Ein Pferd für Winky
5. Die Stimme des Adlers
6. Billy Elliot – I will dance
7. Zaïna – Königin der Pferde
8. Soul Boy
9. Lippels Traum
10. Kinder des Himmels