Lesezeichen
‹ Alle Einträge

KrimiZeit für Kinder: Was geschah mit Cecilie?

 

Mit Biss und Spannung: Die von der KinderZEIT ausgewählten Krimis/ © Getty Images

Helmut Ballot schildert einfühlsam, wie der zwölfjährige Viktor seine Ängste überwindet und so den mysteriösen Tod eines Mädchens aufklärt

Von Susanne Gaschke

Angehende Detektive müssen oft den Hohn und Spott ihrer Umwelt ertragen, und Viktor Laroche geht es da nicht anders als beispielsweise Kalle Blomquist. Besonders Viktors Schwestern Cora und Louise sind jederzeit bereit, ihn für überspannt, wenn nicht gar für verrückt zu erklären – nur weil er sich Notizen über seine täglichen Beobachtungen zu machen pflegt oder das Haus auf Schleichwegen betritt, um gedungenen Mördern zu entgehen. Dieser Gedanke erscheint gar nicht so abwegig, wie er zunächst klingt: Die Berliner Gründerzeitvilla, in der Viktors Familie lebt, liegt im Schatten dunkler Mietskasernen, hat lichtlose Höfe, finstere Hintertreppen, unübersichtliche Bodenräume und Zimmerfluchten, in denen man stundenlang herumirren kann, ohne irgendjemandem zu begegnen. »In dieser ewigen Dämmerung sieht man eines Tages noch Gespenster!«, findet sogar Viktors Mutter.

Viktor sieht kein Gespenst, aber etwas, das womöglich noch unheimlicher ist: Während er in einen Wandspiegel im Durchgangszimmer schaut, huscht etwas – jemand? – hinter ihm vorbei. Eindringlich und überzeugend schildert Helmut Ballot die Ängste eines Zwölfjährigen, der erkennen muss, dass die eigene Wohnung nicht unverletzlich ist, dass offenbar ein Mensch mit schlimmen Absichten dort nach Belieben umherwandert. Viktors wachsende Verzweiflung darüber, dass weder die Schwestern noch die furchteinflößende Frau Debisch (eine entfernte Verwandte der Laroches, die den ersten Stock des alten Hauses bewohnt) ihm glauben wollen, wird psychologisch einfühlsam geschildert. Fast zweifelt Viktor selbst an seinem Verstand: Bildet er sich alles nur ein? Was sucht der geheimnisvolle Eindringling? Existiert er überhaupt?

Ballots in den siebziger Jahren erfolgreich fürs Fernsehen verfilmter Kinderkrimi spielt offensichtlich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, und wenn man dem Autor eine kritische Frage stellen muss, dann sicher die, warum der politische Hintergrund dieser Zeit mit keinem Wort thematisiert wird. Was hingegen zur Sprache kommt, sind der autoritäre Geist und die patriarchalischen Familienstrukturen jener Jahre. In Viktors Familie herrscht noch unumstritten »Onkel«, der Begründer des Familienvermögens. Den 80-Jährigen verlassen zwar zunehmend die geistigen Kräfte, doch sein Wille ist in der Familie immer noch Gesetz – ein Gesetz, das im Zweifelsfall derjenige bestimmt, der Onkels Willen zu kennen vorgibt. Das tut Frau Debisch, die eifersüchtig ihren Einfluss auf das greise Familienoberhaupt bewacht.

Der Kriminalfall, den Viktor trotz aller Widerstände Stück für Stück ans Tageslicht befördert, hat mit der Herrschsucht dieser Frau zu tun – und mit den unlauteren Geschäften des allseits verehrten Familienoberhaupts. Ein Mädchen ist unter verdächtigen Umständen in der Villa gestorben: Ohne ersichtlichen Grund stürzte Onkels Tochter Cecilie im Alter von zwölf Jahren über das Treppengeländer im obersten Stockwerk und brach sich das Genick. Nun, viele Jahre später, findet Viktor Cecilies Tagebuch. Darin sind die Beobachtungen und Gefühle des Mädchens festgehalten, nicht als Text, sondern in Form von Bildern, die mit überraschender Klarheit den Alltag in der Villa zeigen. Sie zeigen auch, womit Onkel sein Geld verdiente – und dass sich Cecilie offenbar vor etwas fürchtete. Fast in jedem Tagebucheintrag sind ein Paar riesenhafte, drohend dreinblickende Augen zu sehen, die den Betrachter anstarren. Wessen Augen es auch sein mögen: Sie haben Macht, vielleicht sogar die Macht zu töten.

Viktor ist sich sicher: Beteiligte des Dramas von einst gehen heute noch im Haus ein und aus, bei Tag und bei Nacht, erkannt und unerkannt. Um Cecilies Mörder nach all der langen Zeit zu entlarven, setzt Viktor auf Schocktherapie: Er bastelt eine lebensgroße Puppe, zieht ihr Cecilies Kleider an – und verpasst ihr statt eines gewöhnlichen Kopfes einen künstlichen Totenschädel aus dem Herrenzimmer der Villa. So echt und grauenvoll sieht die Gestalt aus, dass Viktor selbst Gänsehaut bekommt, wenn er nur daran denkt, dass ein derartiges Horrorwesen auf dem Dachboden lauert. Kaum traut er sich, am Abend durch die dunklen Bodenkammern zu schleichen, um die Puppe am Treppengeländer aufzustellen, wo sie den größtmöglichen Effekt erzielen kann. Doch Viktor nimmt all seinen Mut zusammen und wagt es – aus einem Gefühl der Verbundenheit mit Cecilie heraus, der er sich durch ihre Zeichnungen nahe fühlt. Und sein Instinkt trügt ihn nicht: Am Ende weiß Viktor über Onkels dunkle Machenschaften Bescheid; und selbst wenn er nichts beweisen kann, kennt er doch Cecilies Mörderin. Dass seine Mutter danach keinen Tag länger in der Unglücksvilla wohnen will, ist Viktor mehr als recht.

Der spannende Krimi „Das Haus der Krokodile“ von Helmut Ballut ist der neunte Band der 15-teiligen neuen Krimiedition für Kinder von der ZEIT. Hier erfährst Du mehr darüber.