Lesezeichen
‹ Alle Einträge

KrimiZeit für Kinder: Die Asche der alten Dame

 

Illustration: Ulf K. für DIE ZEIT/www.ulf-k.blogspot.com

Der 15-jährige Lucas stiehlt eine Urne aus einer Taxizentrale – und bringt damit sein ganzes Leben durcheinander

Von Silke Stuck

Zwei Fragen stellen sich dem Leser nach der Lektüre von Jenny Valentines Buch Wer ist Violet Park?. Erstens: Ist das ein Krimi? Zweitens: Können 15-jährige Jungs wirklich so feinfühlig sein wie die Hauptfigur? Mitten in der Nacht entdeckt Lucas Swain, fast 16, in einer verrauchten Taxizentrale im Norden Londons eine Urne, in der sich die Asche einer alten Dame namens Violet Park befindet. Die Urne ist vor ein paar Jahren auf dem Rücksitz eines Taxis vergessen worden, und seitdem fristet sie in einem Aktenregal ihr Dasein. Lucas wird das Gefühl nicht los, dass die Asche darin zu ihm spricht. Nun können tote Damen natürlich nicht sprechen, das ist auch Lucas klar. Doch die Entdeckung lässt ihn nicht los. Als würde die Urne sagen: »Nimm mich mit. Ich gehöre zu Dir, ich habe Dir einiges zu erzählen.« Und so kommt es tatsächlich: Lucas rettet Violet. Und ein bisschen auch sich selbst, aber das weiß er natürlich noch nicht.

An dieser Stelle ließe sich kurz die Beantwortung von Frage eins einschieben: Krimi, ja oder nein? Nun, es gibt eine Tote – Violet Park. Und jemanden, der ihrer Geschichte auf die Spur kommt – Lucas. Dabei entwickelt er durchaus detektivisches Gespür. Am Ende haben wir es sogar mit einer Art Mord zu tun. Also: ein Krimi. Und zwar ein richtig guter.

Wer ist Violet Park? ist das erste Buch der britischen Autorin Jenny Valentine, und gleich für dieses Debüt bekam sie einen renommierten Literaturpreis. Zu Recht. Valentine schreibt wie beiläufig, webt eine wilde Geschichte, streut hier und da ein paar Hinweise ein und lässt auch ihren Helden in die Irre laufen. Dabei trifft sie scheinbar mühelos genau den Ton eines 15-Jährigen – seine Coolness, seine Unsicherheit, die Grübeleien und wegweisenden Einsichten. Das ist hohe Kunst.

Dass Lucas auf einmal mit der Suche nach Violet Park seiner eigenen Lebensgeschichte nachspürt, macht die wilde Story nur noch fesselnder. Er findet schnell heraus, dass Violet jemanden gut gekannt hat, der vor fast sechs Jahren spurlos verschwunden ist, von einem auf den anderen Tag: Lucas’ Vater Pete. Ein Riesenschock war das damals für Lucas und seine Familie, für Mutter Nick, Schwester Mercy und den kleinen Bruder Jed. »Als Vater wegging, war das, was uns verband, eben sein Fehlen, die Tatsache, dass wir ihn vermissten und über ihn nachdachten und auf der Straße nach seinem Gesicht suchten. Auf seltsame Art war das Loch, das er hinterlassen hatte, der Kitt.« Alle anderen aus der Familie haben es längst aufgegeben, nach dem verlorenen Vater zu suchen. Lucas kann das nicht. Manchmal wünscht er sich, dass allein seine intensiven Erinnerungen an Pete ihn irgendwie zurückholen könnten.

Aber vielleicht hilft es ja auch, wenn er mehr über die gemeinsame Geschichte von Violet Park und Pete Swain herausfindet. Wer könnte etwas darüber wissen? Seine Mutter Nick? Die kann er beim besten Willen nicht darauf ansprechen. Sie ist in Lucas’ Augen zu sehr damit beschäftigt, mit ihrem verpfuschten Leben als alleinerziehende Mutter zu hadern. Seine Geschwister? Mercy flüchtet sich in Jungs- und Drogengeschichten, und an dem kleinen Jed ist vor allem »toll, dass er unseren Vater nie kennengelernt hat und ihm das nichts ausmacht«. Die Großeltern Pansy und Norman? Der demente Großvater Norman scheint mehr zu wissen, als er zugibt, aber kann man seinen Äußerungen überhaupt noch trauen? Und was ist mit Bob, Petes bestem Freund von früher, der immer noch gern Lucas’ Mutter trösten würde?

Lucas setzt schließlich das komplizierte Mosaik seiner Lebensgeschichte – und der von Violet Park – zusammen. Ein paarmal hilft der Zufall. Lucas lernt eine Menge über Kinder und Erwachsene und darüber, wie wenig sie manchmal voneinander wissen, über den Tod, über Trauer, Erinnerungen, Glück – und über die Liebe, denn die trifft er nebenbei auch noch. Und die fühlt sich richtig gut an. Was er bei der Suche über den verschwundenen Vater erfährt, ist nicht immer schön, oft schmerzt es sogar. Lucas muss von einigen Vorstellungen Abschied nehmen. Doch so kommt er seinem wirklichen Vater besser auf die Spur, als er jemals gedacht hätte.

Ein zentrales Thema bei Jenny Valentine sind Familien und ihre Geheimnisse. In einem Interview hat sie einmal gesagt: »Familien haben immer Geheimnisse. Und erwachsen werden bedeutet, dass dir das bewusst wird: dass Deine Eltern nicht nur Deine Eltern sind, sondern Menschen, die etwas verbergen.« Damit wäre auch irgendwie die zweite Frage beantwortet: Lucas hat einiges verstanden über seine Familie. Und, ja, Teenager, die so reif mit ihren Gefühlen umgehen können, gibt es durchaus. Allen, denen diese Sichtweise noch Schwierigkeiten bereitet, sei Wer ist Violet Park? empfohlen.

Der spannende Krimi „Wer ist Violet Park“ von Jenny Valentine ist der vierzehnte Band der 15-teiligen neuen Krimiedition für Kinder von der ZEIT. Hier erfährst Du mehr darüber.