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Der Geschichten-Keller

 

Aus all den Büchern könnte man Burgen bauen. Oder sie lesen. Oder auf ihnen herumklettern/ © Jan von Holleben www.janvonholleben.com;

In der Deutschen Nationalbibliothek werden alle Bücher gesammelt, die es auf Deutsch gibt. Sie lagern tief unter der Erde. Unsere Autorin Susanne Prebitzer ist zu ihnen hinabgestiegen

Von Susanne Prebitzer

Heute gehe ich auf Schatzsuche. Ich steige über eine Treppe hinab in die Tiefe. In einem Keller mit drei Stockwerken gehe ich nach ganz unten. Es ist kühl und mucksmäuschenstill. Ich bin fast allein mit dem Schatz. Er besteht nicht aus Gold und Juwelen – sondern aus vielen Romanen, Kinderbüchern, Kochbüchern, Krimis und Comics. Sie stehen in Regalen, die fast bis an die Decke reichen und die man auf Schienen zusammen- und auseinanderschieben kann, um Platz zu sparen. All dieses bedruckte Papier ist eine Art Gedächtnis von Deutschland.

Ich bin in Frankfurt in der Deutschen Nationalbibliothek. Hier und am zweiten Standort in Leipzig gibt es jedes Buch, das in Deutschland oder auf Deutsch erscheint. 21 Millionen Werke sind gesammelt worden, seit die Bibliothek vor 100 Jahren gegründet wurde. Jedes Jahr kommen 500000 weitere hinzu. Wenn man alle Bücher nebeneinanderstellen würde, wäre die Reihe 371 Kilometer lang, ungefähr so lang wie die Strecke von Frankfurt nach Leipzig. Mehr als 550 Regale haben die Mitarbeiter im vergangenen Jahr in Frankfurt vollgepackt. In etwa 20 Jahren wird das letzte voll sein. Dann muss die Bibliothek ein neues Lager bauen.

Unten im Keller ziehe ich ein Buch aus einem dieser Regale. Laura Langbein – Die Rettung des Elfenprinzen, ein Kinderbuch. Es steht direkt neben einem Buch für Kunstexperten, dann folgt ein Heftchen, in dem junge Erwachsene von ihrem Beruf erzählen. Als Nächstes kommt ein Geschichtsroman, danach wieder ein Kinderbuch. Eine seltsame Ordnung. Die Bücher werden in der Deutschen Nationalbibliothek einfach in der Reihenfolge einsortiert, in der sie eintreffen. Thema, Autor, Aussehen – das alles ist den Mitarbeitern hier egal. Es gibt zwei Bedingungen für ein deutsches Buch, um in die Sammlung aufgenommen zu werden: Das Werk muss mehr als fünf Seiten haben, und es muss mindestens 25 Stück davon geben. Das trifft auf ziemlich viele Bücher zu. Das kleinste hier in Frankfurt ist so winzig wie der Daumennagel eines Babys. Das größte reicht einem Erwachsenen bis zum Po.

Nach meinem Besuch im Keller gehe ich ins Obergeschoss in die Abteilung von Ulrike Berger. Hier werden neue Bücher in ein Computersystem aufgenommen. Freche Mädchen – frecher Adventskalender, so heißt das Buch, das heute ganz oben auf Ulrike Bergers Schreibtisch liegt. »Das nulle ich jetzt erst einmal«, sagt die 48 Jahre alte Frau und tippt den Titel in ihren Computer. Nullen – das heißt, dass sie nun prüft, ob das Buch nicht vielleicht schon im Keller steht. Tut es nicht. Ulrike Berger klickt mit der Maus in ein Programm. Auf dem Bildschirm erscheinen verschiedene Angaben über das Buch: wer es geschrieben hat, wie viele Seiten es hat und wie viel es kostet zum Beispiel. Die Expertin kontrolliert alle Angaben doppelt: Stimmt die Seitenzahl? Ist der Name der Autorin richtig geschrieben? Sie muss sehr genau sein. Denn mit ihren Einträgen werden später viele andere Bibliotheken arbeiten.

Schließlich greift Ulrike Berger ein Lineal, misst den Frechen Adventskalender und tippt 25 Zentimeter ein. »Das hört sich jetzt popelig an, aber das ist wichtig«, erklärt sie. Denn bevor eine andere Bibliothek das Buch kauft, kann sie im Computersystem nachschauen, ob das Buch überhaupt ins Regal passt.

Ulrike Berger druckt einen Zettel mit allen Angaben aus und legt das Buch und den Zettel auf einen Wagen. In einem anderen Raum wird als Nächstes jemand darin lesen. Wörter, die den Inhalt des Buchs beschreiben, werden ebenfalls im Computer vermerkt. Das sind die sogenannten Schlagwörter. In diesem Fall könnten das zum Beispiel »Weihnachten« und »Advent« sein. Und wenn später ein Mitarbeiter der Bibliothek alles zum Thema »Weihnachten« sucht, findet er auch den Frechen Adventskalender.

Danach kommt das Buch in eine graue Plastikwanne, die auf einem Gleis aus schwarzen Rollen steht. Ab hier übernimmt eine automatische Förderanlage das Schleppen. Die Ladung fährt von ganz allein mit einem Aufzug in den Bücherkeller. Dort wird das Adventsbuch in ein Regal gestellt – gar nicht weit entfernt von Laura Langbein.

Ein Frecher Adventskalender und Laura Langbein – das soll ein Schatz sein? Es ist einer. Um das zu verstehen, kann man hundert Jahre weiterdenken: Vielleicht will eine Forscherin im Jahr 2112 etwas darüber herausfinden, wie Kinder vor hundert Jahren in Deutschland lebten. Dafür könnte sie sich Kinderbücher aus der Zeit anschauen. Bei der Deutschen Nationalbibliothek würde die Forscherin sie alle finden.

Damit in hundert Jahren aber auch wirklich noch jedes Werk vorhanden ist, gelten in der Bibliothek besondere Regeln. Dass ich in den Bücherkeller hinabsteigen durfte, war eine große Ausnahme. Normalerweise kann man sich Comics oder Romane nur in den Lesesaal bestellen, mit nach Hause nehmen darf man sie nicht. Wer sich also zum Beispiel Laura Langbein anschauen möchte, sucht im Computer im Lesesaal die Kombination aus Zahlen und Buchstaben, mit der die Mitarbeiter das Buch finden können. Bei Laura Langbein ist das »2012 A 495«. 2012 steht für das Jahr, in dem es eingelagert wurde. Die Mitarbeiter wissen jetzt, dass es ganz unten im Keller steht.

Wenn sie das Buch dann aus dem Regal nehmen, stellen sie ein Holzbrettchen an seinen Platz, einen »Stellvertreter«. Die Mitarbeiter wissen so genau, an welchen Ort sie das Buch später zurückstellen müssen. Das ist besonders wichtig: Sollte ein Buch einmal aus Versehen in einem falschen Regal landen, fände man es vermutlich nie wieder.