Von Susanne Gaschke
Erich Kästner war ein wunderbarer Kinderbuchautor, und er konnte sich wunderbar aufregen: am meisten über Erwachsene, die Kinder für allzeit fröhliche, gedankenlos herumtollende, blöde grinsende kleine Vollidioten halten. »Wie kann ein erwachsener Mensch seine Jugend so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder zuweilen sein können?«, schrieb Kästner empört in dem Vorwort zu seinem Kinderroman Das Fliegende Klassenzimmer: »Es ist nämlich gleichgültig, ob man wegen einer zerbrochenen Puppe weint, oder weil man, später im Leben, einen Freund verliert. Es kommt im Leben nie darauf an, worüber man trauert, sondern nur darauf, wie sehr man trauert.« Mit der Neuverfilmung seines Fliegenden Klassenzimmers (1954 gab es schon einmal einen Film) wäre Erich Kästner sicher einverstanden gewesen, denn der Film ist zwar lustig, schnell und manchmal laut, aber er stellt Kinder keineswegs als Vollidioten dar, sondern nimmt ihre Sorgen ernst.
Ein Held des Filmes ist der 12-jährige Jonathan Trotz. Er ist schon von acht Internaten geflogen, weil er einfach zu viele gute Ideen hat, um sich immer an alle Regeln halten zu können. An der Schule des berühmten Thomanerchors in Leipzig muss es endlich klappen, denn sein Adoptivvater, ein Kapitän auf großer Fahrt, kann sich nicht dauernd um ihn kümmern – und Jonathan möchte ihn nicht enttäuschen. Dennoch fürchtet er, dass wieder alles schiefgehen wird. Jonathan hat nicht damit gerechnet, dass er unter den Thomanern so viele gute Freunde finden würde: Martin Thaler, der keine Ungerechtigkeit ertragen kann. Den superstarken Matz Selbmann, der sich immer um Schwache kümmert. Den ängstlichen Uli von Simmern, der ständig gegen die eigene Furcht kämpft. Und Rudi Kreuzkamm, den Sohn des schrulligen Internatsdirektors. Keiner von diesen Jungen ist perfekt. Keiner ist ausschließlich glücklich. Aber sie halten zusammen und machen das Internat mit seinen strengen Regeln und zahllosen Chorproben zu ihrer Schule. Und Jonathan zu ihrem Freund.
Das alles fällt ihnen leicht, weil sie einen großartigen Lehrer haben: Dr. Johann Bökh, den sie »Justus« (der Gerechte) nennen. Dieser Lehrer kann sich erinnern, wie es ist, ein Kind zu sein – und wie viel Kummer er selbst als Schüler in diesem Internat ertragen musste. Er ist als Lehrer an seine alte Schule zurückgekehrt, damit die Jungen einen Erwachsenen haben, dem sie in jeder Lage vertrauen können. Doch wenn er ein so toller Lehrer ist – wie kommt es dann, dass der stets freundliche Justus vollkommen ausrastet, als Jonathan und die anderen ein Stück namens Das Fliegende Klassenzimmer für die Weihnachtsaufführung einüben? Etwa, weil ein Rap darin vorkommt? Weil, gegen die heiligen Traditionen der Schule, Mädchen mitspielen?
Nein, die Jungen sind unversehens über die große Trauer in Dr. Bökhs Leben gestolpert: Das Theaterstück hat er selbst geschrieben. Die Schüler haben es in einem alten Eisenbahnwagen gefunden. Dieser Wagen klingt schon im Roman nach einem herrlichen Zufluchtsort – im Film ist er das Schönste, was man sich vorstellen kann, ein Traum-Raum mit Klavier, Hängematte und Boxbirne. Was die Kinder nicht wissen können: Dieser Wagen gehörte einmal ihrem Lehrer Justus und dessen bestem Freund. Dort saßen sie zusammen, probten mit ihrer Band; dort entstand Das Fliegende Klassenzimmer.
Und diesen Freund hat der Justus verloren. Von ihm fühlt er sich verraten, denn der Mitschüler ging aus dem einen Teil Deutschlands, in dem es damals keine Freiheit gab, in den anderen. Der Justus aber blieb zurück. Die Theaterproben seiner Schüler haben den alten Kummer wieder aufgerissen, und zunächst sieht es aus, als wolle der sonst so gerechte Lehrer ganz ungerecht sein und die Aufführung verbieten. Doch der Justus bezwingt sich. In etwas unerwarteter Form wird Das Fliegende Klassenzimmer doch noch aufgeführt, und der Justus wird für seine Vernunft und Einsicht belohnt. Womit? Das wird natürlich nicht verraten. Nur so viel: In diesem Punkt folgt der Film, der sonst oft andere Wege geht als der Roman (ohne dabei Erich Kästners Ideen zu verraten), ganz dem Buch, das ohnehin jeder lesen sollte.
Das fliegende Klassenzimmer
Deutschland, 2003
110 Minuten
empfohlen ab 6 Jahre