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Film: Briefträger im Kettenhemd

 

© Filmszene

Tiuri ist noch gar kein Ritter, dennoch soll er eine geheimnisvolle Nachricht überbringen. Ein lebensgefährlicher Auftrag

Von Christian Staas

Und was jetzt? Tiuri blickt zur Seite, doch seine Freunde tun, als hätten sie nichts gehört. Dabei war das Geräusch laut und deutlich: ein Klopfen, mitten in der Nacht – am Tor der Kapelle, in der die fünf Jungen Wache halten müssen. Es ist ihre letzte Prüfung, bevor sie am nächsten Morgen zum Ritter geschlagen werden sollen. Kein Auge dürfen sie zutun. Kein Wort darf über ihre Lippen kommen. Und vor allem: Sie dürfen niemanden einlassen. Das Kerzenlicht zuckt über ihre angespannten Gesichter. Jetzt ist auch eine Stimme zu hören: »Im Namen Gottes, macht auf!« Würde jemand so verzweifelt klingen, wenn er den Jungen nur einen Streich spielen, sie auf die Probe stellen wollte? Das Klopfen wird lauter. Tiuri gibt sich einen Ruck, geht durch die nächtliche Kirche, blickt sich noch einmal um. Dann öffnet er das Tor.

Gerade einmal fünf Minuten sind vergangen, und schon ist man pochenden Herzens ein wenig tiefer ins Sofa gerutscht, schon ist man eingetaucht in eine Zeit, in der es Ritter, Burgen und Könige gibt. Der Brief für den König spielt in einer Art Fantasie-Mittelalter – Dagonaut, Unauwen und Evillan heißen die Königreiche. Ausgedacht hat sich diese Ritter-und-Burgen-Welt die niederländische Schriftstellerin Tonke Dragt. 1962 ist ihr Buch Der Brief für den König zum ersten Mal erschienen. 2004 ist es in den Niederlanden als bestes Jugendbuch der vergangenen 50 Jahre ausgezeichnet worden.

Gleich die ersten Bilder der Verfilmung zeigen dem Zuschauer eine verzauberte Welt, eine Landschaft voll verwunschener Wälder, zerklüfteter Felsen und herrlicher Wiesen. Doch der Frieden trügt. Nicht ohne Grund hat der geheimnisvolle Fremde die Nachtwache der Schildknappen gestört. Es geht um Leben und Tod.

Fahles Mondlicht scheint auf den Platz vor der Kapelle, als Tiuri ins Freie tritt. Das Gesicht des Fremden ist kaum zu erkennen, doch als er seine Kapuze abstreift, sieht Tiuri, dass er verletzt ist. Der Mann zieht einen versiegelten Brief aus seinem Umhang. Dieser Brief, sagt er, sei für den König von Unauwen, dessen Reich jenseits der großen Berge liege. Tiuri soll den Brief zum schwarzen Ritter mit dem weißen Schild bringen, der warte auf ihn im Wald. »Beeile dich«, flüstert der Fremde, »und sei vorsichtig«, denn wenn der Brief nicht ans Ziel komme, drohe großes Unheil. Tiuri zögert. Dann reitet er in die Nacht.

Schreckliches erwartet ihn dort: Er findet den schwarzen Ritter sterbend auf einer Lichtung – ermordet. Als dieser ihm mit letzten schwachen Worten den Auftrag erteilt, den Brief selbst weiterzutragen, ahnt Tiuri, dass es kein Zurück mehr gibt. In was ist er da nur hineingeraten?

In etwas Lebensgefährliches! Denn die rätselhafte Mission führt ihn mitten ins blutige Ränkespiel zweier verfeindeter Herrscher. Sturmumtoste Berge, tödlich tiefe Schluchten und reißende Flüsse sind dabei noch die geringsten Gefahren. Viel heikler ist die Frage: Wem kann er trauen? Wer ist Feind, wer Freund? So muss Tiuri eine sehr viel schwierigere Probe bestehen, als es die Nachtwache in der Kapelle je hätte sein können. Er lernt, was es heißt, ein Geheimnis zu bewahren. Er lernt, dass nicht jeder, der wie ein Bösewicht aussieht, auch einer ist – und dass in manchem, der ehrenwert scheint, ein hundsgemeiner Schurke steckt. Vor allem aber lernt er: Sich an Vorschriften zu halten ist gut und schön, doch mit dem Denken darf man deshalb nicht aufhören. Und manchmal muss man auch eine Regel brechen – um eine höhere zu befolgen. Um jemanden zu retten zum Beispiel. Oder um ein Versprechen zu halten.

Und was jetzt? Das fragt man sich, während der Abspann nach fast zwei Stunden über den Bildschirm läuft. Das Ende ist zwar ein Ende, aber es bleibt so vieles offen, dass man sich von Tiuri noch nicht verabschieden möchte. Muss man auch nicht. Man kann weiterlesen. Denn Tonke Dragt hat eine Fortsetzung geschrieben. Sie heißt Der wilde Wald, und wie Der Brief für den König müsste man eine Warnung daraufschreiben: »Vorsicht, wer dieses Buch liest, vergisst alles, was um ihn herum geschieht!« Vom ersten Satz an verwandeln sich die Seiten in eine Kinoleinwand, und kein Filmregisseur könnte die Bilder, die auf ihr erscheinen, schöner und packender erfinden.


Der Brief
an den König

Deutschland/
Niederlande 2008
107 Minuten
empfohlen ab
8 Jahren