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Herr Kibala

 

Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie ein solches Flugzeug zu betreten. Ein russisches Propellermodell, geschätztes Baujahr 1976, gefühltes Baujahr 1946. Aber es ist die einzige Möglichkeit, nach Kamituga zu kommen, einer Goldgräber-Stadt in Süd-Kivu, 140 Kilometer von Bukavu entfernt. Mit dem Auto dauert die Reise zwei Tage, mit dem Flugzeug zwanzig Minuten – und von Bukavu nach Kamituga fliegen nur ukrainische Piloten mit ihren hellbraunen Herrensandalen und verbeulten Maschinen. Unsere wird seit einer Stunde von 15 schwitzenden Kongolesen mit Bierkisten, Säcken voller Zwiebeln und Weißkohl, chinesischen Fahrrädern, Ölkanistern, Koffern und Matratzen beladen – Nachschub für mehrere Goldminen-Städte, die nur aus der Luft zu versorgen sind. Als das Flugzeug endlich vollgestopft ist wie ein Truthahn zu Thanksgiving, sagt der Ukrainer: „Now, you can go in and sitt down.“ Wir klettern durch die Ladeluke über Kisten und Koffer, graben zwei Sitzplätze frei, stemmen uns gegen den Frachtberg, der bei der leichtesten Linkskurve über uns zusammenstürzen wird. Die Motoren heulen auf, die Maschine nimmt Anlauf auf der Startbahn, hebt ab und gewinnt torkelnd an Höhe.

Ich will Wahlkampf im Kongo abseits der großen Städte kennen lernen. Kamituga eignet sich, weil es, wie seine Bewohner sagen, „vraiement dans la brousse“, wirklich im Busch liegt, und weil es einen ungewöhnlichen Parlamentskandidaten vorweisen kann. Jean Claude Kibala, geboren in Kamituga, aufgewachsen in Kamituga, als Student unter dem Mobutu-Regime in Ungnaden gefallen, weswegen er sich mithilfe eines Bundeswehrstipendiums nach Deutschland verabschiedete. Grundausbildung, Offizierschule, Studium an der Bundeswehrhochschule, Arbeit als Ingenieur. Kibala könnte jetzt daheim in Troisdorf bei Bonn mit seiner deutschen Frau und zwei Söhnen den Sommer genießen. Stattdessen hat er beschlossen, sich als Parteiunabhängiger um einen Sitz im kongolesischen Parlament zu bewerben. Wenn im Kongo wirklich eine neue Zeit anbricht, dann will er nicht aus seinem Garten im Rheinland zusehen. Als Einziger der nunmehr 42 Kandidaten in seinem Wahlkreis, womöglich als Einziger im ganzen Kongo, hat er ein Wahlprogramm drucken lassen, das den Einfluss von 17 Jahre Deutschland verrät: Mikrokredite für Handwerker, Einführung des deutschen Schulsystems, Förderung der Frauen in der Landwirtschaft, Kampagnen gegen AIDS, Malaria und Tuberkulose, Schutz der Wälder vor kommerzieller Abholzung. Bei der Landung stürzt es in 500facher Ausfertigung auf uns herab, und Herr Kibala würde am liebsten dem Piloten ein paar unfreundliche Worte in Sachen Flugsicherheit auf den Weg geben. Aber dafür ist jetzt keine Zeit.

Der Flughafen in Kamituga besteht aus einer Staubpiste und dem rostigen Skelett einer Lagerhalle, vor dem sich heute ein Empfangskomitee formiert hat. Singend, Palmblätter schwenkend und die Hüften schwingend begrüßen die Kooperative der Fischerinnen, das Fußballteam von Kamituga, eine Abordnung der Taxifahrer (worunter man sich im Kongo meist Mopeds vorzustellen hat) den Kandidaten. Der tut, kaum ist er aus der Heckklappe gekrochen, was ein Kandidat nicht tun sollte: Anstatt siegessicher zu lächeln und zu winken, sieht er für einen Moment aus, als würde er am liebsten nach Troisdorf zurück.

Zu spät.

Eine ständig anschwellende Menschenmenge schiebt ihn unter Anfeuerungsrufen, Schauspiel- und Tanzeinlagen durch die Straßen Kamitugas, die sich seit dem letzten Regen in Schlammrinnen verwandelt haben. Es geht vorbei an den Ruinen der Bergwerksgesellschaft, die hier jahrzehntelang das Gold aus dem Boden und zum großen Teil in Mobutus Taschen förderte. Vorbei an den rußgeschwärzten kahlen Bretterbuden der Schuster, Schreiner, Friseure, Schneiderinnen, Handyverkäufer und Goldhändler – denn Gold schürfen sie hier jetzt auf eigene Faust.

Herr Kibala ist innerhalb einer Stunde in seine Rolle hineingewachsen, lächelt, winkt, zeigt mit den Daumen nach oben, begrüßt alte Bekannte, macht seine Aufwartung beim Bürgermeister, hält kurze Reden, schüttelt Hände mit einer Abordnung kongolesischer Soldaten, die mit Panzerfaust durch die Stadt streifen, in der es viel Krieg, aber nie einen Panzer gegeben hat.

Ich stapfe hinterher, bestaunt wie ein Unfall der Natur. „Muzungu, muzungu – kuckt mal, eine Weiße.“ Weil mich die Hitze inzwischen in einen nassen Lappen verwandelt hat, bietet mir ein kleiner Mann seinen Sonnenschirm an – auch dann noch, als ich ihm zu seiner Enttäuschung erklärt habe, dass ich nicht die Wahlkampfmanagerin bin und ihm deswegen auch kein Handy schenken kann.

Im großen Umzug durch die Stadt geben jetzt die „Mamans des Policieres“ den Ton an, die Damen vom „Verband der Polizistinnen in Kamituga“. Zur Feier des Tages haben sie Kleider mit Tigermuster angelegt. „Kibalaaa, Kibalaaa“, singen sie, „unsere Stimmen gehören dir.“ So wälzt sich der Strom – 2000 sind es wohl – einmal quer durch die Stadt bis ins Kalingi-Viertel, wo die Kibalas bis zum Krieg gewohnt haben. Ein solider Steinbau mit Veranda, schönem Blick auf die Stadt, Einschusslöchern in allen Zimmern und komplett leer geplündert von den verschiedenen Kriegsherren der letzten Jahre: Von Ruanda unterstützten Rebellen des RCD, Mayi-Mayi-Milizen, Soldaten der kongolesischen Armee. Alles ist weg, Kloschüssel, Waschbecken, Steckdosen, selbst die Stromkabel sind aus der Wand gerissen.

Der Kandidat ist ziemlich erschöpft auf einer Pappkiste zusammengesunken, irgendjemand schafft einen Stuhl herbei, denn jetzt müssen die Würdenträger empfangen werden. Der Mwami tritt herein, das traditionelle Oberhaupt im Landkreis, ein Mittfünfziger, der mit einer Kette aus Raubtierzähnen, einer Basthandtasche und seiner hochtoupierten Haarmähne aussieht wie James Brown. Es folgen der Stadtteilchef, die Vorsitzende der Polizistinnen – sie alle entbieten den Willkommensgruß und nehmen mit einem Händedruck ein paar Geldscheine entgegen. Anerkennung des Kandidaten, Belohnung dafür, heute das Fußvolk mobilisiert zu haben. Spontane Kundgebungen – das ist die erste Lehre – gibt es in diesem Wahlkampf nicht. Wer marschiert, tanzt, singt und lobpreist, bekommt Geld. Frei nach dem Motto: „Es interessiert mich nicht, was du in fünf Jahren in meinem Wahlkreis erreichen willst. Mich interessiert, was du hier und heute für mich tun kannst.“ Die Grenzen zwischen Bestechung und Überlebenskunst sind fließend in einem Land, wo man am Morgen nicht weiß, ob man bis zum Abend etwas gegessen haben wird. Das gilt auch für die unermüdlichen Marschierer, die draußen vor der Tür auf Freibier und Palmwein warten. Doch genau das hat Kibalas Wahlkampfkomitee in der Eile vergessen. Also kriegen die verschiedensten Gruppen Geld, um sich für den Abend selbst zu versorgen. Denn wenn die Leute in der Stadt herumerzählen, „dass es bei Kibala nichts zu trinken gibt“, sagt Kibala, „dann habe ich schon verloren.“