Es war die erste ruhige Nacht in dieser Woche. Abbe Polydor hat sich endlich bei seinem Nachbarn, dem Besitzer der „Bar de la Famille“, über die Ruhestörung beschwert. Die „Bar de la Famille“, bestehend aus ein paar zusammengezimmerten Brettern, einem offenbar unerschöpflichen Vorrat an Palmwein und „Primus“-Bier und einer Lautsprecheranlage, hat die letzten Nächte bis drei Uhr morgens mit kongolesischer Musik, französischen Schnulzen und Karaoke ihre Nachbarschaft beschallt – und damit auch mich. Denn ich wohne in der Gemeinde St. Francois Xavier des Abbe Polydor, dem einzigen „Hotel“ der Stadt.
Zehn Dollar für ein Zimmer mit Bett und Stuhl. Nicht gerade sauber – die Decke schimmelt und Hobbyarchäologen können an den Wänden studieren, welche Würmer, Spinnen und Insekten die Gäste über die Jahre totgeschlagen haben. Aber der Service beinhaltet Moskitonetz und drei Mahlzeiten, die in Kamituga sonst niemand bekommt. Also sollte man nicht meckern – wäre da nicht der laute Nachbar.
Aufgrund der miesen Qualität der Musikanlage klingen die Karaoke-Einlagen, als wäre ein Trupp besoffener Muezzins in Kamituga eingefallen. Der Krach beginnt schon gegen acht Uhr abends, genau dann, wenn der Abbe mit seinen Kollegen während des Abendessens gebannt auf den Fernseher starrt. Die katholische Gemeinde ist nämlich im Besitz einer Satellitenschüssel. Es läuft eine Seifenoper aus Burkina Faso, „Monia et Rahma“ (oder so ähnlich), ein Gerichtsdrama über den Testamentsstreit zwischen der Witwe und der Konkubine ihres verstorbenen Mannes. Monia und Rahma sind zwei stattliche Damen mit wogenden Kleidern und wogendem Busen, bei deren Anblick die Abbes von St. Francois Xavier schon mal das Tischgebet vergessen.
Jedenfalls hat Abbe Polydor gestern dem Barbesitzer eine kleine Strafpredigt gehalten. Jetzt gehe es in die Endphase des Wahlkampfs, hat er gesagt, es würden sich Wahlbeobachter aus dem Ausland und andere wichtiger Persönlichkeiten in der Gemeinde einquartieren. „Und die müssen ausgeschlafen sein.“ Es hat offenbar gewirkt. In dieser Nacht hörte man nur die Zikaden.
Es ist Sonntag. Noch genau eine Woche bis zu den Wahlen. Ganz Kamituga hat sich in einen Kirchenchor verwandelt. Die Hallelujahs rollen in Wellen durch die Stadt, mal kommen sie von den Methodisten, dann von den Erweckungskirchen, dann aus St. Francois Xavier. Seit dem gewaltigen Regenguss vom letzten Abend steckt die Stadt im Schlamm, doch vom Knöchel aufwärts sind die Leute heute herausgeputzt wie für eine Hochzeit.
Jean Claude Kibala will heute bei den Katholiken „Präsenz zeigen“, wie er es nennt. Denn die drei Abbes, allen voran der Abbe Polydor, so glaubt Kibala, haben sich bereits für einen seinen Gegner entschieden und werden das auf die eine oder andere Weise auch an ihre Gläubigen weitergeben.
Neben mir wohnt das Wahlkampfteam von Kibalas schärfstem Konkurrenten, Paul Musafiri, was allerdings auf eine gewisse Voreingenommenheit des Abbe schließen lässt, denn eigentlich hat er beteuert, aus Gründen der Neutralität nicht an Kandidaten und ihre Helfer zu vermieten.
Nun ist Musafiri selbst gar nicht da, sondern sitzt offenbar im sehr viel bequemeren Kinshasa, wo er in der Übergangsregierung einen Ministerposten bekleidet. Aber er hat drei junge Männer und einen roten Pick-up-Truck nach Kamituga geschickt, ist damit der einzige Kandidat mit einem Auto, lässt so per Megafon die Hütten mit Wahlparolen beschallen. Hin und wieder steuern seine Wahlkampfhelfer auch mal mit Karacho und scharfem Bremsmanöver auf die Wahlversammlung eines Gegners zu. Ob das allein ausreicht, sich eines der drei Mandate dieses Wahlkreises zu ergattern, wage ich zu bezweifeln.
Musafiri hat während des letzten Krieges auf Seiten der von Ruanda unterstützten Rebellen des RCD gekämpft, die in einem Dorf nahe Kamituga Frauen lebendig begraben haben, weil diese angeblich mit gegnerischen Milizen sympathisierten. Dieses Verbrechen ist bis heute ein Fanal in dieser Gegend. Aber Musafiri hat inzwischen die Fronten gewechselt, kandidiert nun für eine andere Partei. Außerdem, heißt es in Kibalas Wahlkampfteam, sei der Leiter der örtlichen Wahlkommission sein Halbbruder.
Kibala hat unterdessen noch ein anderes Problem: Seine Wahlkampfposter sind zu schön. Aus Deutschland hat er farbige Hochglanz-Plakate mitgebracht – sehr zum Neid seiner Gegner, die hier nur in mattem Schwarz-Weiß und dazu meist noch mit grimmigem Gesichtsausdruck von den Wänden starren. Doch Kibalas Bilder werden immer wieder abgerissen. Neulich hat er eine Frau auf frischer Tat ertappt: „Mon Honorable“, hat sie gesagt, denn so nennen sie hier alle Kandidaten, „das Bild ist so schön, das hänge ich bei mir zu Hause auf.“