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Alles ist möglich

 

Endlich der Morgen der Wahlen: so ruhig und entspannt habe ich die Strassen von Kinshasa noch nie erlebt. Es herrscht kaum Autoverkehr, die Menschen sind meist zu Fuß in die Wahllokale gekommen. Erster Stopp auf meiner Route durch die Stadt ist an diesem Morgen das „Institute Georges Simenon“ im Bezirk Kasa Vubu, eine für kongolesische Verhältnisse recht intakte Schule mit Asterix-Bildern statt Schimmel an den Wänden. 15 Wahllokale hat man hier aufgebaut: je vier große Kabinen aus Pappe, eine orangefarbene Urne für die Stimmzettel mit den Präsidentschaftskandidaten, eine weiße Urne für die Stimmzettel zur Parlamentswahl. Alles läuft geordnet und ruhig. Die Polizisten am Eingang müssen Höflichkeitspillen geschluckt haben. Keiner brüllt, droht, schubst oder schlägt. Im Gegenteil: sie regeln den Zustrom der Menschen ausgesprochen freundlich.

Das gleiche Bild in Matonge im „Lycee Technique de Kalamu“, wo elf Wahllokale untergebracht sind. Büro 1132/G befindet sich in einem Klassenzimmer mit eingeschlagenen Fensterscheiben und schimmeligen Wänden. An der Tafel stehen noch die Fragen der letzten Unterrichtsstunde: „Was ist das wichtigste Buch des Islam?“ „Wie heißt der Gott der Muslime?“

Heute amtiert hier in der orangenen Weste der „Unabhängigen Wahlkommission“ Joseph Muhindo als „Präsident des Wahllokals“ und erklärt jedem einzelnen Wähler die gesamte Prozedur, um ihn dann mit den tapetenschweren Wahlzetteln in die Pappkabine zu schicken. Sein „Wahlbüro-Sekretär“ Yvon Kassaka mahnt freundlich all jene zur Eile, die etwas hilflos über den fünf plakatgroßen Seiten mit den Namen und Passfotos von 719 Parlamentskandidaten grübeln oder ihr mühsam zusammengefaltetes Wahlzettelpaket nicht allein in die Urne stopfen können. Dann nimmt Madame Dada Kalata, „zweite Assessorin des Wahllokals“, noch den Fingerabdruck des Wählers und taucht den Daumen in nicht abwaschbare Tinte.

Gleich neben dem „Lycee Technique“ befindet sich die Kirche des Erweckungspredigers und Kabila-Freundes „General Sony Kafuto Rockman“, die bei den Unruhen am letzten Donnerstag wahrscheinlich von Anhängern Jean-Pierre Bembas geplündert worden ist. Angeblich hätten diese in der Kirche Waffen und jede Menge Wählerkarten gefunden. Wie immer im Kongo gilt auch für dieses Gerücht: Nichts glauben und alles für möglich halten.

Jedenfalls ist heute nichts, absolut nichts, von der gespannten Atmosphäre jenes Donnerstages zu merken. Fast alle Geschäfte haben geschlossen, der Zentralmarkt ist verwaist, nur die „Ghaddafis“, die fliegenden Benzinhändler, die Verkäufer von Handykarten, ein paar Kneipen und Imbissbuden haben geöffnet. Wer gewählt hat, flaniert mit Freunden zwischen den kokelnden Müllhaufen und Straßenständen, gönnt sich ein Primus-Bier, Fleischspieße oder Maniok.

Jeder Wahlbeobachter, jeder Journalist – egal ob aus Sambia, Deutschland oder Südafrika – wird freundlichst begrüßt, selbst in Massina und Ndjili, den größten Slums der Stadt, wo man auf Fremde nicht immer freundlich reagiert. „Madame, wir zählen auf Euch“, sagt ein Wähler, nachdem er meinen Presseausweis entziffert hat. „Ihr müsst aufpassen, dass sie uns nicht wieder bescheißen.“ Sie- das sind fast alle Köpfe auf der Liste der Präsidentschaftskandidaten. So begeistert die Kongolesen an dieser Wahl teilnehmen, so nüchtern ist ihre Meinung über das politische Personal, das ihnen zur Auswahl steht.

Nächste Station: ein Wahlbüro, in Kisambeke am Rande von Kinshasa. „Madame Commissaire“, Nene Luamba, eine 45-jährige Polizistin, leitet hier den Polizeieinsatz, der für sie in einen gemütlichen Nachmittag mündet, „weil das hier ein anständiges Viertel ist und niemand Ärger macht.“ Polizisten dürfen ebenso wie Soldaten nicht wählen, was angesichts der unrühmlichen Geschichte dieser beiden Institutionen im Kongo eine weise Beschränkung ist. Ihre Freundin Maman Zola, arbeitslos und sechsfache Mutter, darf hingegen abstimmen und kümmert sich wenig um das Wahlgeheimnis: „Kabila, wer sonst. Ich hoffe, der schafft Arbeit. Mein Mann verdient nichts und tut nichts. Ich organisiere von morgens bis abends, verkaufe hier ein paar Getränke und nähe da ein paar Kleider. Es reicht hinten und vorne nicht. Also: Arbeit für die Männer. Die Frauen brauchen mal eine Pause. Wissen Sie überhaupt, wie müde ich bin?“

17 Uhr, die Wahllokale schließen. Ich hatte Schlangen von ungeduldigen Menschen erwartet, die noch eingelassen werden wollen: nichts da. Alles ruhig. Die Wahlhelfer haben sich mitsamt Beobachtern eingeschlossen und mit dem Auszählen der Stimmen begonnen. Das große Warten auf das Ergebnis beginnt.

Zwischendurch ruft Jean Claude Kibala an und meldet den letzten Stand der Dinge aus Kamituga: ein Besoffener, so die Polizei, soll am Freitag auf der Kundgebung geschossen haben. Wenn das stimmt, muss er die Schüsse wenigstens nicht persönlich nehmen. Inzwischen wirkt er eher wütend als ängstlich oder besorgt. Er fürchtet, dass die vielen Analphabeten in seinem Wahlbezirk von nicht-autorisierten „Helfern“ bei der Stimmabgabe manipuliert worden sind.

Anderswo werden größere Probleme gemeldet: In Mbuji-Mayi, einer Hochburg des Oppositionsführers Etienne Tshisekedi, der die Wahlen boykottiert hat, wurden sieben Wahllokale angezündet, aber das kann bis zum frühen Abend die Feierstimmung in Kinshasa nicht trüben. Und es erscheint ja tatsächlich wie ein Wunder: Keines der worst-case-Szenarien ist bislang eingetreten – auch nicht im Osten des Landes, wo immer noch Milizen operieren.

Es reicht für heute, ich fahre auf dem Boulevard Lumumba zurück Richtung Innenstadt, bin selbst in Feierlaune. Auf der Gegenfahrbahn kommen Lastwagen mit Polizisten in Kampfausrüstung und Gasmasken entgegen. Es soll Straßenschlachten in einem der Armenviertel geben – ein Kabila-Anhänger soll versucht haben, Wähler zu bestechen, worauf diese sein Haus in Brand gesetzt haben sollen. So schnell bricht der reine Friede eben doch nicht aus.