Die Menschen in Sierra Leone haben vergangene Woche gleich zwei denkwürdige Ereignisse erlebt. Zuerst den –etwas missglückten – Prozessauftakt gegen Charles Taylor. Dann eine historische Sitzung im nationalen Parlament, an dessen Ende ein Gesetz gegen Kinderheirat verabschiedet wurde. Ab sofort gibt es ein Mindestalter: Die Braut muss mindestens 18 Jahre alt sein – der Bräutigam natürlich auch, aber um die Männer geht es hier nicht.
Mädchen im Alter von elf, zwölf oder dreizehn Jahren an 50 oder 60jährige Männer zu verheiraten, ist nicht nur in Afghanistan, sondern auch in einigen afrikanischen Ländern üblich. Bislang nannte man das in Sierra Leone „Tradition“, nun ist es zumindest laut Gesetz eine Straftat. Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass die „Tradition“ während des Krieges in Sierra Leone zum kollektiven Trauma geworden war: die Rebellen der „Revolutionary United Front“ (RUF) waren nicht nur berüchtigt für ihre Praxis, Zivilisten Arme und Beine abzuschlagen. Sie verschleppten auch tausende von jungen Mädchen als „bush wives“, als Kriegsbeute.
Das Bittere an dieser Erfolgsmeldung aus dem Parlament ist: im Entwurf des Gesetzes war auch das Verbot des Genitalverstümmelung vorgesehen – euphemistisch „Klitorisbeschneidung“ genannt. Dieser Absatz löste im Parlament heftige Diskussionen aus, in deren Verlauf sogar die Presse des Saales verwiesen wurde. Als die Journalisten wieder Einlass fanden, war die entsprechende Passage aus dem Entwurf gestrichen. „Für viele Politiker wäre es das Ende ihrer Karriere“, erklärte ein Abgeordneter dem britischen Nachrichtensender BBC, „wenn sie in der Öffentlichkeit einen Bann fordern würden.“
Möge ihnen der Himmel auf den Kopf fallen.
Aber mit frommen Wünschen ist den Betroffenen nicht geholfen. Bis zu 90 Prozent aller Mädchen und Frauen in Sierra Leone sind Opfer dieser Tortur geworden, was unter anderem die hohe Todesrate von Frauen im Wochenbett, die wachsende HIV-Infektionsrate und den erbärmlichen Gesundheitszustand so vieler Frauen erklärt. Doch genitale Verstümmelung gehört zur Inititation von Mädchen in die Welt der Erwachsenen. Traditionelle Frauenbünde, die „Bundu Societies“, richten das Ritual aus, die Beschneiderinnen (oftmals identisch mit den Hebammen) sind hoch angesehene Mitglieder der Dorfgemeinschaften. Mütter bestärken ihre Töchter, Großmütter ihre Enkelinnen – und sollte tatsächlich ein Mädchen den Mut haben, sich der Verstümmelung zu verweigern, muss sie sich auf ein Leben als Gebrandmarkte einrichten. Sie hat die eigene Gemeinschaft gedemütigt, ist auf dem Heiratsmarkt „verdorbenes Gut“, hat ihre Eltern damit auch um den dringend benötigten Brautpreis gebracht.
Nun könnte man meinen, dass der elfjährige Bürgerkrieg und die Umwälzungen der Nachkriegszeit die Macht der Tradition gebrochen haben. Zumal Sierra Leone im Jahre fünf des Wiederaufbaus immer noch einen kläglichen vorletzten Platz auf dem UN-Entwicklungsindex einnimmt (Rang 176 von 177 Ländern), was vor allem der hohen Müttersterblichkeit zuzuschreiben ist.
Doch offensichtlich ist die Tradition nicht schwächer sondern stärker geworden. Weil der Krieg auf dem Land alle modernen staatlichen Strukturen zerstört hat, sind die traditionellen Geheimgesellschaften als ordnende Kräfte wieder umso attraktiver geworden. Und sie sind ein Wirtschaftsfaktor innerhalb der Dorfgemeinschaft. Mehr Eltern haben nun wieder Zeit und Geld für die Initiationsrituale ihrer Kinder. An dieser „Friedensdividende“ verdienen nicht nur tausende von Beschneiderinnen, sondern auch die Dorfchefs, die einen Teil der Einnahmen kassieren.
Womit wir wieder bei der Politik wären. Eine Frau, die keiner Geheimgesellschaft angehöre und damit die herrschenden Traditionen in Frage stelle, habe als Politikerin keine Chance, sagt Zainab Bangura. Die muss es wissen. Sie war 2002 die einzige weibliche Gegenkandidatin des amtierenden Präsidenten Ahmed Tejan Kabbah. Bei der Wahl erhielt sie gerade einmal ein Prozent des Stimmen, nachdem das Gerücht umging, sie sei gegen die Klitorisbeschneidung. Das bestreitet sie übrigens vehement, obwohl sie als Mädchen bei ihrer eigenen „Beschneidung“ fast verblutet wäre. Die heutige First Lady, Patricia Kabbah, ging damals für ihren Mann bei den „Bundu Societies“ auf Stimmenfang, indem sie die „Beschneidung“ von 1500 Mädchen bezahlte. Am 11. August wird in Sierra Leone ein neuer Präsident gewählt. Man darf gespannt sein, wie die Kandidaten dieses Mal um die Unterstützung der „bundu societies“ werben.
Bleibt nun die Frage, wie dann überhaupt ein Gesetzesantrag zur Vorlage kommen konnte, der ein Verbot gegen Genitalverstümmelung enthielt. Die Antwort liegt in folgenden Namen: Olayinka Koso-Thomas, Rugiatu Turay, David Tambajoh – so heißen einige der Gynäkologinnen, Frauenrechtlerinnen und Journalisten, die noch während des Krieges in den 90er Jahren in der Hauptstadt Freetown die erste Kampagne gegen Genitalverstümmelung starteten. In Freetown leben vor allem Angehörige der Krio, Nachkommen befreiter Sklaven und die einzige ethnische Gruppen, die Genitalverstümmelung nicht praktiziert. Wie so vieles ist auch dieser Kampf ein Konflikt zwischen Stadt und Land. Noch ist das Land stärker als die Stadt. Viel stärker.
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