So, jetzt ist das Tabu gebrochen. Was in den vergangenen Jahren und Monaten allenfalls hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, hat der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger nun offen ausgesprochen. Wenn’s denn gar nicht anders geht, dann sei nach der Unabhängigkeit des Kosovo auch eine Abspaltung des serbisch dominierten Nordens vorstellbar. „Wenn“, so Ischinger, „beide Seiten das wollen.“ Gut möglich, dass Ischinger in den nächsten Stunden oder Tagen wieder zurückrudert und beschwichtigt, aber das Gespenst ist nun aus der Flasche.
Wolfgang Ischinger ist nicht irgendwer, sondern Europas Vertreter in einer aus den USA, Russland und der EU bestehenden Troika. Die soll versuchen, die kosovo-albanische Übergangsregierung und die Regierung in Belgrad zu einem Kompromiss über den zukünftigen Status des UN-Protektorats zu bewegen. Bekanntermaßen ist ein solcher Kompromiss nicht vorstellbar: Für Belgrad ist die Unabhängigkeit des Kosovo undenkbar, für Prishtina der Verzicht darauf.
Ähnlich unvereinbar sind auch die Positionen innerhalb der Troika: die war überhaupt erst ins Leben gerufen worden, nachdem Russland im UN-Sicherheitsrat den Plan des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari blockiert hatte, der das Kosovo in eine „überwachte Unabhängigkeit“ entlassen will. Russland will vom Ahtisaari-Plan eigentlich gar nichts mehr wissen, die USA wiederum bestehen darauf, und die EU zerfällt zunehmend in Gegner und Befürworter – schöne Voraussetzungen für ein Vermittlerteam.
Nun geistert also die Option der Teilung durch die Konferenzzimmer. Die war von allen internationalen Akteuren nach außen hin immer kategorisch abgelehnt worden, würde sie doch am Verhandlungstisch vollenden, was während der Balkankriege versucht worden war: ethnisch homogene Nationen zu schaffen.
Bekanntermaßen ist das Kosovo de facto aber längst geteilt. Die Serben nördlich des Flusses Ibar haben sich dort eine von Belgrad finanzierte Parallelverwaltung aufgebaut, deren Zentrum die Stadt Mitrovica ist. Diese Tatsache entblößt tagtäglich den Selbstbetrug der internationalen Gemeinschaft. Denn der Anspruch, mit dem NATO-Krieg gegen Serbien 1999 nicht nur die Vertreibung der Kosovo-Albaner zu stoppen, sondern im Kosovo auch eine multi-ethnische Gesellschaft zu „erhalten“, war von vornherein eine Illusion gewesen. Unmittelbar vor dem Krieg 1999 herrschte im Kosovo keine „multi-ethnische“-Gesellschaft, sondern eine Art Apartheid gegen die Albaner. Und nach dem Krieg gab es keine Akte der Versöhnung, sondern der blutigen Rache von Albanern an Serben und Roma, die man verwerflich finden muss, aber nicht verwunderlich.
Ist es dann nicht besser (und ehrlicher), diesen Staat im Wartestand auch de jure zu teilen? Zumal die Radikalen unter den Kosovo-Serben ohnehin angedroht haben, sich nach der Unabhängigkeit abzuspalten?
Nein, ist es nicht. Denn eine Abspaltung des Nordens würde vermutlich mehr Probleme schaffen als lösen. Erstens lebt mindestens die Hälfte der Kosovo-Serben südlich des Ibar. Eine Spaltung des Landes könnte die Spannungen massiv anheizen und eine Massenflucht der Serben aus dem Süden des Kosovo auslösen. Zweitens würde eine „Sezession in der Sezession“ sofort albanische Begehrlichkeiten nach dem Presovo-Tal im Süden Serbiens wecken, in dem mehrheitlich Albaner leben. Drittens befinden sich im Norden ein Teil der Bodenschätze (Zink, Lignit, Blei) und ein großer Teil der Industrieanlagen, die das Kosovo dringend für den Aufbau einer legalen Wirtschaft braucht.
Nicht, dass die Alternative einer vorerst „eingeschränkten Unabhängigkeit“ besonders charmant erscheint. Aber der Ahtisaari-Plan sieht für die mehrheitlich serbischen Regionen in einem unabhängigen Kosovo immerhin eine weit reichende Autonomie vor; die serbischen Kirchen und Klöster, die zu den schönsten in Europa zählen, wären durch einen Sonderstatus geschützt. Ausländische Truppen und EU-Beamte würden den neuen Staat auf Jahre hinaus begleiten und bewachen.
Ob der Ahtisaari-Plan je in Kraft treten wird, ist eine andere Sache – und damit wären wir bei der Preisfrage: wie sieht ein „likely case scenario“, ein wahrscheinliches Szenario, derzeit aus?
Etwa so: Russland stemmt sich weiterhin gegen die Unabhängigkeit des Kosovo und verhindert eine Sicherheitsrat-Resolution, die das UN-Protektorat völkerrechtlich „sauber“ in die eingeschränkte Unabhängigkeit entlässt. Das kosovarische Parlament ruft im Spätherbst einseitig die Unabhängigkeit aus. Die USA, die Schweiz und einige europäische Länder werden das Land sofort anerkennen, die russische Regierung wird fauchen, die serbische wird theatralisch den Verlust des Amselfeldes und damit der „Wiege der Nation“ beschreien. Die EU droht in diesem Fall in Befürworter und Gegner einer Unabhängigkeit zu zerfallen, aus der gesamteuropäischen Mission mit dem völkerrechtlichen Siegel einer UN-Resolution würde wahrscheinlich ein bilaterales Aufbau-Programm einiger EU-Länder mit der kosovarischen Regierung. Wer das verwirrend und beunruhigend findet, der sei hiermit getröstet: es geht allen so.
Die Zeit „eleganten Lösungen“ ist leider längst vorbei. „Warum hat die internationale Gemeinschaft das Kosovo nicht gleich nach dem Krieg 1999 unabhängig werden lassen“, fragte unlängst einer der wenigen serbischen Reformpolitiker in Belgrad. „Dann wäre Milosevic an allem Schuld gewesen und wir könnten uns heute mit wichtigeren Problemen beschäftigen.“ Dem bleibt nichts hinzuzufügen.