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Der Auftritt des Angeklagten Karadzic

 

Es ist eine Tortur, die sich die Frauen von Srebrenica immer wieder zumuten. Sie beantragen ein Visum für die Niederlande, fahren zwanzig Stunden im Bus von Sarajewo nach Den Haag, falten vor dem Gerichtsgebäude des UN-Jugoslawien-Tribunals die Transparente mit den Namen ihrer ermordeten Angehörigen auf, erleben, wie die Hauptangeklagten theatralische Monologe halten, sich selbst zu Opfern und die Opfer zu Tätern erklären oder einfach gar nicht erst erscheinen. So geschah es im Prozess gegen Slobodan Milosevic. So geschieht es jetzt im Prozess gegen Radovan Karadzic.

Internationale Strafprozesse gegen Kriegsverbrecher können vieles leisten: sie können eine Kultur der Straflosigkeit eindämmen. Sie können nicht nur die unmittelbaren Täter, sondern auch die Drahtzieher zur Verantwortung ziehen. Sie können durch ihre Ermittlungen zur historischen Aufarbeitung beitragen, das Lügen und Leugnen erschweren.

Eines können sie nicht: die Opfer, die Überlebenden, die Zeugen der Anklage  zum geschützten Mittelpunkt des Verfahrens machen. Mittelpunkt eines  Strafverfahrens ist nun mal der Angeklagte. Und der hat, unter anderem, das Recht, die dreistesten Lügen im Beisein der Opfer von sich zu geben. Das erklärt, warum die Frauen von Srebrenica sich Anfang der Woche aus dem Munde des angeklagten Radovan Karadzic anhören mussten, dass der Bosnienkrieg die Schuld der Muslime und der Genozid von Srebrenica ein „Mythos“ sei. Es erklärt allerdings nicht, warum die Frauen nach der Verhaftung von Karadzic im Juli 2008 noch einmal über anderthalb Jahre auf die Eröffnung des Prozesses warten mussten.

Das Recht des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, wurde bei der Entstehung des UN-Tribunals in die Prozessordnung geschrieben.
Es hat sich inzwischen als eine der schlimmsten Fußangeln erwiesen. Slobodan Milosevic hat dieses Recht genutzt, seinen Prozess mit politischen Monologen und oft absurden Dialogen mit den Richtern in die Länge zu ziehen. Nach viereinhalb Jahren raffte ihn ein Herzinfarkt dahin, und die Opfer seiner Kriege mussten sich nicht nur jahrelang verhöhnt, sondern auch um ein Urteil betrogen fühlen.

Ein anderer „Selbstverteidiger“, der das Gericht seit Jahren als Bühne für eine Schlammschlacht missbraucht, ist Vojislav Seselj, der serbische Ultranationalist, gelernte Anwalt und Führer serbischer Paramilitärs. Seselj ist der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Morde Massenvergewaltigungen und Plünderungen angeklagt. Im Gerichtssaal fällt er vor allem durch obszöne Tiraden und wüste Drohungen gegen Zeugen auf.

Dagegen gibt es eigentlich ein Mittel: Einem Angeklagten, der das Verfahren obstruiert, kann man einen Pflichtverteidiger beiordnen, was die Richter auch mehrfach versucht haben. Allerdings hat die Berufungskammer des Tribunals jeden Anlauf abgeschmettert. Sie ist offenbar der Meinung, dass ein Angeklagter das Recht, sein eigener Anwalt zu sein, erst dann verwirkt, wenn er einem Richter buchstäblich an die Gurgel geht.

Diese Präzedenzfälle machte und macht sich Karadzic zunutze, um Zeit zu schinden. Das tut er, anderes als Seselj, in formvollendeter Höflichkeit, aber nicht weniger effektiv. Weil Englisch und Französisch die Gerichtssprachen sind, kann Karadzic auf der Übersetzung aller Dokumente in Serbische bestehen. Allein das dauert. Er kann, was er im Herbst vergangenen Jahres immer wieder getan hat, reklamieren, nicht genügend Zeit zur Vorbereitung zu haben und die Eröffnung des Verfahrens boykottieren. Prozessbeobachter und Experten debattieren heftig, ob das Gericht ihn nicht längst hätte in die Schranken weisen können und sollen.

Die Mütter von Srebrenica haben sich unterdessen in Den Haag andere juristische Wege eröffnet. Im Juni 2007 reichten sie vor einem niederländischen Gericht Zivilklage gegen den niederländischen Staat und die Vereinten Nationen ein – wegen, vereinfacht ausgedrückt, Vertragsbruch.

Ihre Anwälte, darunter der deutsche Jurist Axel Hagedorn, argumentieren, dass die UN im Sommer 1995 den bosnischen Muslimen in Srebrenica Schutz quasi vertraglich garantiert hatten: durch entsprechende Zusicherungen hoher UN-Offiziere, durch UN-Resolutionen und die Einrichtung einer so genannten „Schutzzone“, aber auch durch die Entwaffnung muslimischer Kämpfer, die damit selbst keine Möglichkeit mehr hatten, sich und bosnische Zivilisten zu verteidigen. Wenige Wochen später überrollten Truppen unter dem Kommando von Ratko Mladic die Enklave und ermordeten 8000 bosnische Männer und Jungen. Die niederländischen Blauhelme leisteten nicht nur keinen Widerstand. Aus Angst vor den Serben unterstützten sie, so die Kläger, den Genozid, indem sie Männer von Frauen trennten und selbst Verwundete an die Serben übergaben, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wissen mussten, was Mladic mit den Gefangenen vor hatte.

Die niederländische Regierung wiederum verhinderte mehrfach den Einsatz von NATO-Luftstreitkräften gegen serbische Stellungen aus Angst um das Leben ihrer Soldaten. Und die UN konstatierte sich unmittelbar nach dem Genozid selbst, eklatant bei der Ausführung ihres Mandats versagt zu haben. Im Klartext: Die Staatengemeinschaft hatte einen Völkermord nicht verhindert, hatte es nicht einmal ernsthaft versucht.

Aber kann man eine Regierung und die UN deswegen verklagen? Letztere berufen sich auf ihre Immunität, festgelegt in der UN-Charta, und warnen davor, dass Peacekeeping-Missionen unmöglich gemacht würden, sollte die Klage zugelassen werden. Erstere versteckt sich gewissermaßen dahinter. Falsch, sagen Hagedorn und seine MandantInnen. Im Fall von Nichtverhinderung eines Genozids kann niemand, auch nicht die größte internationale Organisation, Immunität reklamieren.

Auch dieses Verfahren zieht sich nun schon seit drei Jahren vor den niederländischen Instanzen hin. Dass die Überlebenden und Angehörigen von Srebrenica es gewinnen, glaubt kaum jemand. Aber sie haben eine zentrale Frage aufgeworfen, die so schnell nicht mehr aus der Debatte verschwinden wird: Wem sind die Vereinten Nationen eigentlich Rechenschaft schuldig, wenn sie ihre ureigenste Aufgabe, den Schutz der Menschenrechte und die Verhinderung eines Genozids, so dramatisch missachten wie es in Srebrenica der Fall war?