Die Menschen in Kabul haben – möchte man meinen – derzeit andere Sorgen, als sich den Kopf über den britischen Wahlkampf zu zerbrechen. Trotzdem verfolgten einige mit Spannung die Fernsehdebatte zwischen Gordon Brown, David Cameron und Nick Clegg – und tun das, was die meisten Briten vermutlich nicht tun: Sie lesen die Programme der drei Parteien.
Warum?
Weil sie, obwohl sie keine britischen Staatsbürger sind, am 6. Mai bei den Parlamentswahlen ihre Stimme abgeben werden. Genau gesagt: die Stimme, die sie sich geliehen haben.
Give your vote heißt die Kampagne britischer Aktivisten. Wahlberechtigte Briten geben ihre Stimme an Bürger anderer Länder, die von politischen Entscheidungen in London maßgeblich betroffen sind. Im Fall von Afghanistan liegt der Zusammenhang auf der Hand: Wie und was Downing Street über den Militäreinsatz gegen die Taliban entscheidet, wie und wo Hilfsgelder eingesetzt werden, hat Einfluss auf das Leben der Menschen in Kabul, Herat oder Kandahar.
Außer Afghanen nehmen auch Ghanaer und Bangladeshi an der Aktion teil. Die ghanaische Wirtschaft leidet massiv unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise und unter den Folgen von Handelsabkommen, von denen wiederum europäische Länder wie Großbritannien profitieren. Bangladesh ist schon jetzt massiv vom Klimawandel betroffen, für den vor allem Industrienationen verantwortlich sind.
Wie funktioniert das Wählen ohne Grenzen?
Wer seine Stimme „frei geben“ will, hinterlässt bei give your vote eine entsprechen Erklärung sowie E-Mail-Adresse und Handynummer, über die „Fremdwähler“ in Kabul, Dhaka oder Accra dann ihre Präferenz für Labour, Tories oder die Liberal Democrats kundtun. Mehrere tausend Briten haben inzwischen ihre Stimme nach Ghana, Afghanistan oder Bangladesh „verliehen“. In den Hauptstädten dieser Länder sind Telefonleitungen geschaltet, um Voten nach Großbritannien durchzugeben.
Klingt ein bisschen nach globalem Ringelpietz mit Anfassen. Steckt aber mehr dahinter. Weder behaupten die britischen Organisatoren, ihr Wahlsystem erschüttern zu können, noch glauben Wähler in Kabul, Dhaka oder Accra, dass sie den Wahlausgang beeinflussen werden.
Give your vote ist schlicht eine pfiffige Form der Nachhilfe in Sachen entgrenzter Politik. Je globaler die Krisen, desto nationaler und provinzieller erscheinen in diesen Zeiten die Wahlkämpfe. Das gilt besonders für die westlichen, industrialisierten Ländern, die maßgeblich zu diesen Krisen beitragen – und maßgeblich zu deren Lösung beitragen könnten.
Wie wär’s also mit einer „Leih-mir-mal-ne-Stimme“-Aktion bei der nächsten Bundestagswahl? Afghanen könnten sich auf diese Weise mit der Forderung von Oskar Lafontaine nach dem sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan beschäftigen. Sie könnten per Konferenzschaltung deutsche Kandidaten fragen, wo all die versprochenen Polizeiausbilder geblieben sind und wie man in Berlin mit der korrupten Regierung in Kabul umzugehen gedenkt.
Wählen ohne Grenzen geht natürlich auch andersherum. Für 2011 sind Wahlen im Kongo angesetzt. So mancher Kongolese wäre sicher bereit, seine Stimme an interessierte deutsche „Gastwähler“ in Berlin, Freiburg oder Dresden zu vergeben, die dann ihrerseits vor laufenden Kameras oder über das Radio Fragen an kongolesische Kandidaten, allen voran den amtierenden Präsidenten Joseph Kabila richten: zum Beispiel zu dessen dubiosen Plänen einer Verfassungsänderung. Oder zum Verbleib von Hunderten Millionen Euro aus EU-Töpfen für den Staatsaufbau. Oder zur Repression gegen kritische Journalisten.
Wie gesagt: Solche Aktionen heben die Welt nicht aus den Fugen. Sollen sie auch gar nicht. Aber ein wenig globale Hellhörigkeit kann in diesen Zeiten nicht schaden.