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Paukenschlag in Den Haag: Warum der Prozess gegen Thomas Lubanga ausgesetzt wurde

 

Wenn es bei Gericht so etwas wie Donnerhall gibt, dann hat es gestern in Den Haag mächtig geknallt. Seit anderthalb Jahren zieht sich der Prozess des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGh) gegen den ehemaligen kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga hin. Nun haben die drei Richter unter Vorsitz des Briten Adrian Fulford das Verfahren ausgesetzt – und die Freilassung Lubangas angeordnet. Die Anklagebehörde hatte Fulfords Anweisung ignoriert, die Identität eines kongolesischen Zeugen offen zu legen, der seinerseits Zeugen der Anklage für ihre Aussage bezahlt und deren Inhalt manipuliert haben soll.

Bis auf weiteres bleibt Lubanga, dem Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten vorgeworfen wird, hinter Gittern. Fulford gab den Anklägern fünf Tage Zeit, gegen seine Entscheidung Widerspruch einzulegen, was diese mit Sicherheit tun werden. Ob Lubanga während der Verhandlung des Widerspruchs in Haft bleibt, muss dann die Berufungskammer des IStGh entscheiden.

Der  Beginn des ersten Prozesses des IStGh im Januar 2009 wurde noch als historischer Auftakt einer „Weltstrafjustiz“ gefeiert. Nun sind ausgerechnet bei dieser Premiere so ziemlich alle denkbaren Probleme zu einer Zerreißprobe zwischen Richtern und Anklägern eskaliert. Es geht um elementare, scheinbar unvereinbare Prinzipien: den Schutz von Zeugen und das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Es geht um die enormen Hindernisse bei den Ermittlungen in einem völlig zerstörten Land wie dem Kongo. Es geht um das Dilemma zwischen weltweiter Empörung über Kriegsgräuel einerseits und deren so mühsam und ineffektiv erscheinender juristischer Aufarbeitung andererseits. Und es geht ganz konkret um „intermediary 143“.

So wird in den Gerichtsakten jener vermutlich kongolesische Mittelsmann genannt, der am Schauplatz der Kriegsverbrechen im nordöstlichen Bezirk Ituri der Haager Anklagebehörde geholfen hat, Kontakte zu Zeugen herzustellen und deren Aussage aufzunehmen. Mit solchen einheimischen Mittelsmännern zu kooperieren, ist eine übliche Vorgehensweise. Bei ihren Ermittlungen sind die Ankläger maßgeblich auf die Informationen und Kontakte kongolesischer Menschenrechtler und Dolmetscher sowie auf die Nachforschungen dort stationierter UN-Mitarbeiter angewiesen. Vor allem erstere erwarten dafür Wahrung ihrer Anonymität und Schutz vor Repressalien, so weit dieser in einem Land wie dem Kongo überhaupt möglich ist.

Nachdem inzwischen zwei Zeugen, die von Lubangas Miliz rekrutiert worden sein sollen, ihre Aussagen gegen den Angeklagten  zurückgezogen haben, werfen die Verteidiger eben jenen Mittelsmännern vor, Aussagen manipuliert zu haben.  Lubangas Anwältin Catherine Mabille und ihre Kollegen fordern, die Identität von „intermediary 143“ zu erfahren und diesen selbst vorzuladen. Richter Fulford hielt das für ein vertretbares Ansinnen, das Büro von Chefankläger Luis Moreno-Ocampo nicht. Letzterer will den Namen von „intermediary 143“ nicht herauszurücken, auch nicht an den kleinen Kreis der Verteidiger, solange der Mittelsmann nicht ausreichend geschützt ist.

Sich der Anordnung eines Richters so demonstrativ zu widersetzen, geht  – zunächst – für keinen Ankläger gut aus. Fulford ist das, was man im Englischen als „no-nonsense-guy“ bezeichnet. Also jemand, der sich von keiner Streitpartei vorführen lässt. Schon vor Prozessbeginn rasselten er und seine beiden Kollegen, der Bolivianer René Blattman und die Costaricanerin Elisabeth Odio Benito, mit Ocampos Abteilung aneinander. Damals ging es um potenziell entlastendes Beweismaterial, dass die Anklagebehörde unter Verweis auf Schutz ihrer Quellen nicht an Lubangas Verteidiger weitergeben wollte. Diese Runde gewann Ocampo. Die Berufungskammer entschied in seinem Sinne. Offensichtlich hofft er auch bei diesem Konflikt auf die nächst höhere Instanz.

Soviel zum juristischen Innenleben auf dem Planeten Den Haag. Nach außen, vor allem nach Ituri, sind diese Ereignisse sehr viel schwerer zu vermitteln. Dort starben 1999 und 2003 in einem Krieg zwischen ethnischen Milizen über 50.000 Menschen, unter anderem von Hand jener Kindersoldaten, deren Rekrutierung Lubanga vorgeworfen wird. Unter anderem eine EU-Militärmission führte schließlich einen fragilen Frieden herbei.

Dass inzwischen auch ehemalige Kriegsgegner von Lubanga auf der Anklagebank des IStGh sitzen, hat im Kongo das Gerücht entschärft, hier würden nur die Täter einer ethnischen Gruppe verfolgt. Dass vier Jahre nach der Überstellung von Lubanga aus einem kongolesischen Gefängnis nach Den Haag immer noch kein Urteil ergangen ist, finden die Bewohner Ituris kaum nachvollziehbar. Eigens eingerichtete Radioprogramme erlauben ihnen durchaus, die Ereignisse in Den Haag genau zu verfolgen.

Die neuerliche Krise des Lubanga-Prozesses erwischt den Gerichtshof zu einem prekären Zeitpunkt. Der Prozessauftakt gegen den bislang prominentesten Untersuchungshäftling, den ehemaligen kongolesischen Vize-Präsidenten Jean-Pierre Bemba, ist gerade wieder verschoben wurden. So mancher Experte hält die Anklage-Konstruktion in diesem Fall für ziemlich wackelig.

Gleichzeitig hat der Gerichtshof gerade seine erste Überprüfungskonferenz hinter sich. Bei der haben sich die Vertragsstaaten darauf geeinigt, in Zukunft dem IStGh auch eine (allerdings eingeschränkte) Jurisdiktion über den Tatbestand des Angriffskriegs zu übergeben.

Simpel formuliert: die Erwartung an den einzigen permanenten internationalen Strafgerichtshof, die schlimmsten Verbrechen und ihre Haupttäter zu bestrafen, sind noch größer geworden. Gleiches gilt nicht unbedingt für die Ausstattung des Gerichts. Es gilt auch nicht für die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, den politischen Druck auf Angeklagte wie den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir zu erhöhen.

Sollte jetzt ausgerechnet die juristische Premiere des IStGh, der Lubanga-Prozess, platzen, hätte das Gericht einen bitteren Erfolg zu verbuchen: Es hätte das Prinzip des fairen Verfahrens hoch gehalten, aber gleichzeitig den eigenen Ruf nachhaltig ramponiert.