Massen junger Araber (und Araberinnen) in Aufruhr. Wie oft diente uns dieses Bild als Schreckensszenario: „Vorsicht! Demografische Zeitbombe“. Oder: „Hilfe! Die nächste Flüchtlingsflut“. Oder: „Achtung! Allahs Mob auf der Straße!“
Seit Wochen marschieren und rebellieren Tausende von TunesierInnen, bauen Barrikaden, stürzen ihren Diktator – und halten jene Werte hoch, die Europa als Fundament seiner politisch-kulturellen Identität reklamiert.
Egal, welchen Ausgang die Jasminrevolution nehmen wird: Zu den Momentaufnahmen dieser Januartage zählt nicht nur die Euphorie über den Sturz eines Autokraten, sondern auch die Beschämung Europas. Der Westen – vulgo: wir – hat beredt geschwiegen, wenn es um den Polizei- und Spitzelterror des Autokraten Ben Ali ging. Lieber autoritäre Stabilität mit vollen Gefängnissen und vollen Touristenstränden als politische Liberalisierung, die sich womöglich „destabilisierend“ auswirkt. So lautet das amerikanische Kalkül (nur kurz unterbrochen durch das Desaster namens „Operation Iraqi Freedom“). So lautet das europäische Kalkül. Und es ist wieder einmal nicht aufgegangen.
Europa hat es nicht nur unterlassen, vom alten Regime in Tunis Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten einzufordern. Es hat einem diktatorischen Regime bei der Niederschlagung von Demonstrationen auch noch Hilfe angeboten. „Das in aller Welt geschätzte Können unserer Sicherheitskräfte erlaubt es, Situationen dieser Art zu regeln“, erklärte die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie, als die tunesische Polizei Demonstranten zusammenschoss. Hätte Hillary Clinton einen solchen Satz von sich gegeben, wären Europas Politiker und Kommentatoren wochenlang im Gestus der moralischen Empörung verharrt. Im Fall Alliot-Marie lag der Protestpegel der europäischen Amtskollegen bei Null. Denn Frankreichs Maghreb-Politik wurde bislang von der gesamten EU mitgetragen. Auch von Deutschland.
Es regte sich auch kein Unmut dagegen, dass Europa zum x-ten Mal seine Türen und Banken für einen Klan von Kleptokraten geöffnet hat. Konten in der Schweiz und Frankreich zwecks sicherer Anlage veruntreuter Gelder, ein Chalet in Courchevel, Appartements in Paris, Immobilien an der Côte d’Azur. Dies ist eine vorläufige und wohl unvollständige Liste der schmutzigen Geldanlagen der Familie Ben Ali.
Mag ja sein, dass Finanzströme und Immobilienkäufe nicht einfach zu durchleuchten sind. Aber wir leben in einem Zeitalter, da jede mickrige Geldüberweisung auf Terrorismusverdacht geprüft werden kann und selbst das Schweizer Bankengeheimnis nicht mehr heilig zeigt. Warum also fällt den Schweizer Behörden erst jetzt ein, Ben Alis gut gefüllte Konten einzufrieren? Und welche Art von Glaubwürdigkeit meinen EU-Regierungen (allen voran Frankreich) zu demonstrieren, wenn sie Millionen Euro zur Abschottung gegen illegale Einwanderer ausgeben, während deren Herrscher die Beute aus der heimischen Staatskasse ungestört in den Pariser Luxusvierteln investieren?
„Pain, liberté, dignité! Brot, Freiheit und Würde!“ So lautet eine der Parolen des tunesischen Volksaufstandes. Das ist eine interessante Variation von liberté, égalité, fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), der Parole der französischen Revolution. In den tunesischen Alltag übersetzt, heißt das: erschwingliche Nahrungsmittelpreise, Ende der Repression und politische und soziale Rechte für alle. Denn zu einem Leben in Würde gehört nicht nur der Schutz vor Verfolgung. Dazu gehört auch, sich nicht entwürdigen zu müssen, um Nahrung, Wohnraum, Gesundheit und Bildung für sich und die eigene Familie zu gewährleisten.
Mohamed Bouazizi, der 26 jährige Tunesier, der mit seiner Selbstverbrennung das Fanal für den Aufstand setzte, hat, nach allem, was man über ihn weiß, eben diese Entwürdigung nicht mehr ausgehalten. Seine Arbeitslosigkeit. Das Wissen, als Straßenhändler seine Familie nicht versorgen zu können. Die täglichen Schikanen der korrupten Behörden.
Es wird dieser Tage immer wieder auf den vergleichsweise hohen Bildungsgrad der Tunesier und ihr vergleichsweise hohes Durchschnittseinkommen hingewiesen. Weil das Land eine Mittelschicht hervorgebracht habe, so das Argument, habe es die gesellschaftliche Kraft für eine demokratische Revolution entwickelt. Das Problem ist: In den Familien dieser Mittelschicht leben Söhne und Töchter mit Hochschulabschlüssen, die genau wissen, dass ihre angeblich so stabile Ökonomie keine Perspektive, keine „Verwendung“ für sie hat. Schon ein paar Zuckungen und Spekulationen an den globalen Getreidebörsen können eine solche Mittelschicht ins Wanken bringen. Von der Unterschicht ganz schweigen.
Die rasant steigenden Brotpreise waren einer der Auslöser der tunesischen Jasmin-Revolution. Aus Angst vor „Ansteckung“ haben all die anderen „pro-westlichen“ Potentaten im Nahen und Mittleren Osten nun begonnen, Preise für Nahrungsmittel zu senken. Das ist keine Antwort auf den Reformdruck, sondern ein staatlich finanziertes Beruhigungsmittel.
Und was macht Europa jetzt? Was machen wir jetzt? Nun, ein klares offizielles Bekenntnis zur tunesischen Demokratiebewegung und eine deutliche Warnung an potenzielle Saboteure in Tunesiens Nachbarschaft wären ein ordentlicher Anfang. Die schnelle Bestandsaufname und Blockierung des illegitimen Vermögens der Ben Alis und ihrer Getreuen wäre ein zweiter Schritt. Den könnte man auch auf amtierende Potentaten ausdehnen.
Und dann? All die Expertise gewähren, die das Land braucht und will: für die Ausrichtung und Beobachtung von Wahlen, für die Auflösung des Repressionsapparat (da haben osteuropäische Länder einiges Know-How zu bieten). Wirtschaftshilfe und Schutz vor weiteren Preisexplosionen bei Grundnahrungsmitteln. Und irgendwann wird sich Europa der Debatte um eine andere Einwanderungspolitik stellen müssen. Eine, die nicht auf Abschottung setzt, sondern jungen Menschen aus dem Maghreb Chancen auf dem europäischen Arbeitsmarkt bietet. Klingt verwegen in diesen Zeiten. Aber die TunesierInnen sind dieser Tage noch viel verwegener.