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Der Grenzverletzer – zum Mord an Juliano Mer Khamis

 

In diesem arabischen Aufbruch, der ja schon seit Jahren gärt, werden Dogmen zerstört, Ketten gesprengt, Grenzen übertreten. Auf die Kunst, Unvorstellbares und Unerhörtes möglich zu machen, hat sich kaum einer so gut verstanden wie Juliano Mer Khamis, israelischer Schauspieler, Regisseur, Leiter des „Freedom Theatre“ in Jenin in der Westbank. Wenn Theater in diesen Zeiten eine subversive Sprengkraft besitzt, dann in diesem palästinensischen Flüchtlingslager, wo schon allein der Umstand Grenzen verletzte, dass  Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, ein israelischer Regisseur mit palästinensischen Schauspielschülern gemeinsam probten. Wo jede Aufführung, egal ob Orwells „Farm der Tiere“ oder „Fragments of Palestine“ eine Kampfansage an ideologische Hardliner ist – egal ob auf israelischer oder palästinensischer Seite.  Juliano Mer Khamis wurde am Montag vor seinem Theater von Attentätern erschossen. Bedroht hatte man ihn, den Sohn einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, schon lange. Doch die Täter werden wohl gewusst haben, warum sie jetzt zuschlugen: In diesen Zeiten, da in den arabischen Ländern die Generation der Jungen ihre  Angst verliert, hätte die Stimme von Mer Khamis in der Westbank noch mehr bewirken können als sie ohnehin schon bewirkt hat. Er wurde 53 Jahre alt.

Es war seine Mutter Arna, die in den 80er Jahren ein Theaterprojekt mit Flüchtlingskindern in Jenin auf die Beine stellte. Jahre später sprengten sich einige von ihnen als Selbstmordattentäter in die Luft und rissen andere mit in den Tod. Einige wurden während der zweiten Intifada von der israelischen Armee erschossen. Solche Lebensläufe porträtierte Mer Khamis 2004 in seinem Dokumentarfilm „Arnas Kinder“. Da hatte er bereits ein Leben radikaler Identitätsbrüche hinter sich: als Elitesoldat der israelischen Armee; als Gefängnisinsasse, zu anderthalb Jahren verurteilt, weil er einen Offizier niedergeschlagen hatte; als gefeierter Schauspieler in Israel, der sich eines Abends weigert, vor einem Publikum voller Soldaten aufzutreten. 2006 geht er nach Jenin und baut das „Freedom Theatre“ auf. Zu seinen Mitstreitern gehört schließlich sogar der ehemaliger Führer der Al-Aksa-Brigaden im Flüchtlingslager. Für die Hüter des palästinensischen Märtyrerkults konnte es kaum einen gefährlicheren Mann geben als diesen Theaterregisseur.

Das „Freedom Theatre“ hat langjährige Partner in Deutschland – unter anderem medico international und die Berliner Schaubühne. In Gedenken an Juliano Mer Khamis wird die Schaubühne am 8. und 10. April in Berlin unter anderem seinen Dokumentarfilm „Arnas Kinder“ zeigen.