Und schon ist er wieder weg. Nach seiner Festnahme und dem ersten Auftritt vor dem UN-Jugoslawien-Tribunals (ICTY) ist Ratko Mladic von der Bildfläche und den Bildschirmen verschwunden. Der nächste Gerichtstermin ist für den 4. Juli angesetzt, ein langwieriges Verfahren wird folgen, und das öffentliche Interesse daran dürfte deutlich geringer sein als im Fall Dominique Strauss-Kahn. Medial – und damit auch in unseren Köpfen – scheint das leidige Kapitel der Jugoslawien-Kriege mit den Bildern von Mladics Verhaftung abgeschlossen.
Das ist es natürlich nicht.
Mehr noch als andere Verfahren vor dem UN-Jugoslawien-Tribunal bietet der Fall Mladic Material für eine europäische Geschichts-und Gegenwartsstunde. Juristisch geht es um die Frage nach seiner Verantwortung für den Massenmord von Srebrenica, die Zerstörung Sarajevos und andere Verbrechen. Historisch und politisch geht um internationale Mitverantwortung. Zum Beispiel um die Doktrin der „Realpolitik“ in London, Berlin oder Paris Anfang der 90er Jahre, wonach die Verhinderung „ethnischer Säuberungen“ mitten in Europa nicht im nationalen Interesse Großbritanniens, Frankreichs oder Deutschlands stand. Und natürlich um das dramatische Versagen der UN, vertreten durch niederländische Blauhelme, gegenüber den bosnischen Muslimen in Srebrenica, die zu schützen sie versprochen hatten. Mladic konnte an jenem 11. Juli 1995 die Enklave einnehmen, weil er seitens der UN nicht auf eine Schutzmacht für die Zivilbevölkerung traf, sondern auf einen selbstgefälligen, trägen Apparat. Die UN-Hierarchen waren vor allem mit der eigenen Bürokratie beschäftigt, die Mitgliedsländer mit der Unversehrtheit ihrer Blauhelm-Soldaten. Unterlassene Hilfeleistung ist noch eine milde Formulierung für das, was da im Juli 1995 in der sogenannten Schuutzzone passiert ist. Die „Mütter von Srebrenica“ kämpfen sich seit Jahren durch die Instanzen der niederländischen Justiz, um sowohl die UN als auch die Niederlande rechtlich zu belangen. Die Erfolgsaussichten stehen nicht gut. Aber immerhin haben sie die grundsätzliche Frage aufgeworfen: Wer zieht eigentlich die Vereinten Nationen zur Verantwortung, wenn sie ihren (völkerrechtlichen) Pflichten und Zusicherungen nicht nachkommen?
Daran muss man sich erinnern, um die Verbitterung der Überlebenden zu verstehen. Die Bilder von Mladic’s Festnahme mögen bei den „Müttern von Srebrenica“ und anderen Opfergruppen kurz Genugtuung ausgelöst haben. Aber es wäre geradzu obszön, ihnen nun weis machen zu wollen, das Kapitel der Jugoslawien-Kriege sei abgeschlossen. Es wird auch nach dem Urteil im Mladic-Prozess nicht abgeschlossen sein. Dass Gerichte einen „Schlussstrich“ ziehen können, ist eine ebenso vermessene wie gefährlich-naive Erwartung. Sie können Pflöcke gegen die Straflosigkeit einschlagen. Sie können – und das ist ebenso wichtig – mit ihren Ermittlungen und Urteilen den Spielraum für Lügner, Leugner und Verdränger verkleinern.
Aber „das Tribunal kann durch seine Urteile allein keinen Frieden und keine Aussöhnung in der Region stiften.“ Patrick Robinson, jamaikanischer Richter und Präsident des Tribunals, hat das gesagt, als er Anfang vergangener Woche zum halbjährlichen Rapport beim UN-Sicherheitsrat in New York antrat. Robinson hat wiederholt einen Fonds zur Entschädigung der Opfer gefordert, finanziert durch freiwillige Beiträge von Mitgliedsländern. Keine sehr populäre Idee in Zeiten von Wirtschafts-und Eurokrise. Aber Gerechtigkeit und Aussöhnung – oder zumindest die Annährung daran – beruhen eben auch auf der Anerkennung dessen, was der einzelne erlitten hat. Auf allen Seiten, der bosniakischen, kroatischen, serbischen, kosovo-albanischen.
Und weil wir schon beim Geld sind: Das Tribunal wird noch etwas mehr davon brauchen. Das Haager Gericht befindet sich seit mehreren Jahren in der prekären Lage, seine eigene Schließung vorzubereiten, während der Gerichtsbetrieb gleichzeitig auf Hochtouren läuft. Der vermeintlich letzte Prozess gegen Radovan Karadzic soll bis 2014 abgeschlossen sein. Doch jetzt kommt der Fall Mladic hinzu – und womöglich finden die serbischen Behörden auch noch den letzten auf der Fahndungsliste des ICTY, den kroatischen Serbenführer Goran Hadzic. Ein Gericht, das mindestens zwei Megaprozesse noch vor sich hat und gleichzeitig seine eigene Abwicklung betreiben muss, wird anfällig für Fehler.
Wie gesagt, Bitten um mehr Finanzen und Personal werden derzeit nirgendwo gern gehört. Aber sehen wir es einmal so: Ratko Mladic wäre der internationalen Justiz beinahe durch die Lappen gegangen. In den letzten Jahren hatte die Entschlossenheit der meisten EU-Mitgliedsländer spürbar nachgelassen, Serbiens Weg in die Union kompromisslos von der Auslieferung aller gesuchten Kriegsverbrecher abhängig zu machen. Am Ende haben einige wenige dafür gesorgt, dass die EU Kurs hält: Mehrere NGOs, das niederländische Parlament und die Anklagebehörde des UN-Tribunals unter dem Belgier Serge Brammertz, der in diesem Fall dafür sorgte, dass seine deutliche Kritik an den Belgrader Ermittlungs– und Verwirrungsstrategien von niemandem mehr überhört oder herunter gespielt werden konnten. Und so fanden die serbischen Behörden Ratko Mladic nach fast sechzehn Jahren. Scheinbar total überrraschend bei einem seiner Cousins auf dem Land.
In einem Europa, das derzeit wenig Schlagzeilen produziert, auf die man stolz sein könnte, war das die beste Nachricht seit langem. Dafür sollte man dem Tribunal den entsprechenden Respekt zollen – und die nötigen Ressourcen, damit es seine letzten Prozesse ordentlich zu Ende bringen kann.