An manchen Ecken lässt sich erahnen, dass dies einst eine schöne Stadt gewesen sein muss. Ein Handelszentrum mit Hafen, Jahrhunderte alten Moscheen, einer katholischen Kathedrale, pulsierenden Märkten. Nach 20 Jahren Bürgerkrieg ist von Mogadischu eine Trümmerlandschaft geblieben, verstörend schön gelegen am Indischen Ozean. Zwischen den Ruinen haben Abertausende von Flüchtlingen ihre Notunterkünfte aus Ästen, Decken und Plastikplanen aufgebaut. Kioskbuden bieten Kekse und Säfte an, auf dem Bakara-Markt fegen Ladenbesitzer den Schutt zusammen und inspizieren die Granateneinschläge in den Mauern ihrer Geschäfte, soweit diese überhaupt noch stehen. Vor wenigen Monaten tobten hier noch heftige Kämpfe zwischen der islamistischen Al Shabab-Miliz auf der einen und Truppen der Afrikanischen Union und der somalischen Übergangsregierung auf der anderen Seite. Die Gleichzeitigkeit von allgegenwärtiger Zerstörung und trotzigem Überlebensalltag macht einen schwindelig in dieser Stadt.
Die Zahl der Flüchtlingscamps nimmt zu, was gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht ist. Gut, weil unter den Flüchtlingen viele Vertriebene aus Mogadischu sind, die nun, da in der Stadt nicht mehr gekämpft wird, die Rückkehr wagen. Schlecht, weil die Lebensumstände in den Camps dadurch noch erbärmlicher werden. Deren Versorgung ist bestenfalls chaotisch. Somalische NGOs sind überfordert, niemand überblickt die Zahl der Flüchtlinge oder Camps, UN-Vertreter wagen sich aufgrund der immer noch prekären Sicherheitslage ebenso wenig in die Stadt wie Vertreter ausländischer Hilfsorganisationen. Die Ausnahmen: Ein paar Vertreter des Roten Halbmonds sowie muslimischer NGOs aus der Türkei, Saudi-Arabien, Kuwait oder den Vereinigten Emiraten. Ein kleines Team von „Médecins sans Frontières“. Und Cap Anamur.
Seit August arbeitet ein Ärzteteam der deutschen NGO in Mogadischu, Hauptstadt eines weitgehend kollabierten Staates, auf dessen Territorium sich im Frühjahr mehrere Krisen zu einer gewaltigen Katastrophe gebündelt haben: Die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten am Horn von Afrika hat zu einer Hungersnot geführt, die wiederum Hunderttausende zur Flucht nach Kenia, Äthiopien und nach Mogadischu getrieben hat. In Somalia wird die Not massiv verschärft, weil die am härtesten betroffenen Gebiete unter Kontrolle der islamistischen Al Shabab Miliz stehen. Die wiederum sehen westliche Hilfsorganisationen als Gehilfen der somalischen Übergangsregierung an – und damit als Feind. Al Shabab hat sich zwar im Sommer weitgehend aus Mogadischu zurückgezogen (und ist jetzt vor allem mit der anrückenden kenianischen Armee im Süden Somalias beschäftigt). Aber in der Hauptstadt kam es wiederholt zu Selbstmordattentaten.
Für die Mitarbeiter von Cap Anamur heißt das: Wenig Bewegungsfreiheit, viel Arbeit.
Bereits im Juli hatte die NGO Kooperationsmöglichkeiten in Somalia ausgelotet. Im August bezog das erste Ärzteteam Quartier auf dem Gelände des Banadir-Hospitals, eines der wenigen Gebäude in der Stadt, das an bessere Zeiten erinnert. Ein Krankenhaus mit 600 Betten, einer autarken Wasser- und Stromversorgung und relativ gut ausgebildetem Personal. Das alles hinter Mauern, die nicht von Kugeln und Granaten durchsiebt worden sind.
Bis Mitte Oktober hatte Cap Anamur die Kinderabteilung weiter ausgebaut, eine Intensivstation mit Sauerstoffgeräten, Überwachungsmonitoren und Bluttestgeräten eingerichtet und zusammen mit somalischen Kollegen hunderte von Patienten mit Symptomen schwerster Unterernährung behandelt. Säuglinge und Kleinkinder mit den Gesichtern von Greisen, mit Hungerödemen und allen Krankheiten, die in Elendsgebieten noch anfallen: Durchfall, Bronchitis, Lungenentzündung, Würmer, Malaria, Tetanus, Meningitis, Tuberkulose ….
Fahrten durch die Stadt und die Flüchtlingscamps sind aus Sicherheitsgründen nur selten möglich. Von Mogadischu bekommen die Cap Anamur-Mitarbeiter mehr zu hören als zu sehen. Der Motorenlärm und das Stimmengewirr eines inzwischen wieder regen Straßenlebens. Hammerschläge von den Baustellen der Kriegs-und Krisengewinner. Und Schüsse – mal näher, mal ferner. Der Verbreitungsgrad von Schnellfeuergewehren in Mogadischu ist rekordverdächtig, irgendjemand schießt alle paar Stunden irgendwohin. Die Somalis zucken nicht einmal mehr mit der Wimper. Also gewöhnt man sich selbst auch schnell daran.
Was nichts daran ändert, dass die Sicherheitslage für Einheimische wie Ausländer, gelinde gesagt, besser sein könnte. Deutlich besser. Die somalische Übergangsregierung ist vor allem damit beschäftigt, sich selbst zu schützen, wobei allerdings der schläfrige Arbeitsmodus von Soldaten und Polizisten nicht so recht zur Bedrohungslage passt. Ohne die Militärmission der Afrikanischen Union (AMISOM), zusammengesetzt aus ugandischen und burundischen Soldaten, wäre Mogadischu vermutlich längst in die Hände von Al Shabab gefallen.
Inzwischen hat Cap Anamur ein zweites Projekt gestartet: eine Ambulanz, geöffnet täglich von Samstag bis Donnerstag. Drei Zelte, acht Betten, eine Apotheke und schon am frühen Vormittag einen Bürgersteig voller Patienten. Das Haus hinter der Krankenstation dient inzwischen als Unterkunft für das Team, derzeit bestehend aus einer Ärztin, einem Krankenpfleger und einem Techniker (zuständig für alles Nicht-Medizinische von Buchhaltung über Reparatur des Sauerstoffgeräts, Computerwartung, Medikamententransport bis zum Bau der provisorischen Tischtennisplatte). Als vor wenigen Wochen eine Entführungsdrohung die Runde machte, beschloss die NGO, das Quartier zu wechseln. Die Kooperation mit dem Banadir-Hospital geht weiter, das Krankenhaus wird auch in Zukunft mit Medikamenten unterstützt.
Und wie eröffnet man in Mogadischu ein Ambulanz?
Vereinfacht, sehr vereinfacht, in etwa so: Man sucht unter Umgehung der einheimischen Immobilienhaie, die es in jedem Katastrophengebiet gibt, ein bewohnbares und bezahlbares Gebäude; man saniert die Wasserversorgung, bezieht über eine Privatfirma teuren Strom, zimmert Betten, baut die Garage zur Apotheke um, stellt zusätzlich eine somalische Ärztin und zwei Krankenpfleger sowie Übersetzer ein. Außerdem heuert man einen Trupp Bewacher an, die den Eingang kontrollieren und bei den seltenen Fahrten in die Stadt auf der Ladefläche des Pick-Up-Trucks mit ihren Kalaschnikows Platz nehmen, was durchaus abschreckend wirkt. (Zum Beten legen sie das Gewehr ausnahmsweise zu ihren Füßen auf den Teppich)
Die Zelte der Ambulanz waren bereits am ersten Tag gut ausgelastet. Malaria, Durchfallerkrankungen, Anämie, Wurmbefall werden ambulant behandelt, unterernährte Kinder ans Banadir-Hospital überwiesen. Für die Polio-Kranken, die auf allen Händen und Füßen in die Ambulanz kriechen, soll demnächst eine kleine Rollstuhl-Werkstatt entstehen.
Bedarf für weitere Projekte herrscht genug. Im gesamten Hafenviertel der Stadt gibt es keine medizinische Versorgung, ebenso wenig in den Flüchtlingslagern. Eine weitere Ambulanz wäre möglich. Oder ein kleines Hospital mit Mutter-Kind-Station.
Nachhaltiges Expandieren in kleinen Schritten. So lange es die Sicherheitslage erlaubt.
P.S.: Wer die Arbeit der Ärzteteams in Mogadischu unterstützen möchte, findet weitere Informationen und Kontonummern auf der Website von Cap Anamur.