Man würde das neue Jahr gern mit Erfreulicherem beginnen als mit Schlagzeilen wie „Südsudan: Tausende Menschen sterben bei Stammeskämpfen“ oder „Die blutige Rache der Lou Nuer“.
Die ersten Meldungen liefen kurz nach Jahreswechsel über die Agenturen: In Jonglei, einem der Einzelstaaten des Südsudan, hat eine Miliz von rund 6.000 jugendlichen Angehöriger der Lou Nuer einen Angriff auf die Stadt Pibor verübt, die überwiegend von der Volksgruppe der Murle bewohnt wird. Beide Gruppen liefern sich seit Längerem einen Konflikt um Vieh und Weideland. Von 3.000 Toten war in den Medien die Rede. Es wäre eines der schlimmsten Massaker in der Geschichte des (Süd-)Sudans – und eines der schlimmsten weltweit in den vergangenen zehn Jahren.
Nach den vorliegenden Informationen lässt sich Folgendes sagen: Es gab zahlreiche Tote unter den Murle. Es gibt bislang keine verlässlichen Zahlen über die Anzahl der Toten. Die Angabe von rund 3.000 ermordeten Murle stammt vom Verwaltungschef des Landkreises Pibor, einem Murle, der den Vorwurf des Genozids erhoben hat. Nach ersten Recherchen der UN ergeben sich aber dafür (noch) keine Anhaltspunkte.
Die Lage, wie sie die Leiterin der UN-Mission im Südsudan, Hilde Johnson, beschreibt, ist auch so schlimm genug. Offensichtlich haben die Lou Nuer auch mehrere Tausend Häuser und Hütten geplündert und angezündet. Ein großer Teil der Zivilbevölkerung war kurz vor dem Angriff aus Pibor geflohen. Einheiten der UN-Blauhelme und der südsudanesischen Armee (SPLA) lieferten sich Feuergefechte mit den Angreifern.
„Die Leute haben kein Dach über dem Kopf“, sagte Johnson nach einem Besuch in Pibor, „ihr Vieh wurde geraubt und damit auch ihre Lebensgrundlage.“ Kurzum: ein humanitäres Desaster – und zwar genau zum Jahrestag des gefeierten Referendums, mit dem die Südsudanesen im Januar 2011 die Sezession vom Norden beschlossen hatten.
So schlimm es klingt: Nichts davon ist überraschend. Das größte Problem für den jungen Staat ist längst nicht mehr der große Feind im Norden, das Regime in Khartum, sondern eine Gemenge-Lage von Konflikten im eigenen Land. Eine Vielzahl ethnischer Gruppen mit zum Teil archaischen Traditionen konkurriert um knappe Ressourcen in einer vom Unabhängigkeitskrieg zerrütteten Gesellschaft. Die tödlichste Zutat in diesem Gemisch ist die hohe Dichte an Schnellfeuerwaffen.
Auch der Krieg zwischen Luo Nuer und Murle hat sich aus einem scheinbar profanen Grund hochgeschaukelt: Viehdiebstahl. Die Mehrheit der Südsudanesen leben von Viehzucht, Rinder sind sowohl Zahlungsmittel als auch soziales Statussymbol und Brautpreis. Nur wer genügend Rinder aufbringt, kann eine Familie gründen. Viehdiebstahl mit anschließenden Racheaktionen der Bestohlenen haben folglich eine lange Tradition. Nur werden die Aktionen inzwischen nicht mehr mit Speeren und Messern ausgeführt, sondern mit Kalaschnikows – ein Erbe des jahrzehntelangen Bürgerkriegs gegen das Regime in Khartum.
Dessen Frontlinien sind auch in den anhaltenden Kleinkriegen in Jonglei auszumachen. Dass die christlichen Südsudanesen geschlossen gegen den muslimischen Norden gekämpft hätten, ist eine der Legenden der internationalen Berichterstattung und des Bedürfnisses nach klaren „Gut-gegen-Böse“-Verhältnissen. Tatsächlich waren die Fronten immer wieder verworren. Die von Dinka und Nuer dominierte Befreiungsarmee SPLA galt und gilt manchen anderen Bevölkerungsgruppen im Süden eher als Okkupationsmacht. Gruppen der Murle kämpften phasenweise auf Seiten der SPLA, andere auf Seiten Khartums. Letzteres hat sie bei der politisch-militärischen Elite des Landes nicht eben beliebt gemacht.
Für die Murle kommt besonders erschwerend hinzu, dass sie im südsudanesischen Vielvölkerstaat als rückständige Außenseiter gelten und oft als Sündenbock für Missernten und sonstige Unbill herhalten müssen. Was nicht heißt, dass sie nur Opfer wären: Ihre Jungmänner haben in den Gebieten der Luo Nuer ebenfalls geraubt, getötet und geplündert.
Bevor nun der übliche pawlowsche Reflex einsetzt und die UN des Versagens bezichtigt werden: Blauhelme können einen vereinbarten Waffenstillstand oder Frieden zwischen Kriegsparteien sichern, sie können inzwischen auch in vielen Fällen Zivilisten vor Rebellengruppen schützen. Aber sie können keine inner- oder intraethnischen Konflikte um Viehbestände, Stammesehre und Brautpreise eindämmen. Und man sollte es auch gar nicht erst von ihnen erwarten. (Es sei denn, man plädiert für eine hoch professionelle, bestens ausgerüstete Eingreiftruppe, die in diesem Fall 6.000 bewaffnete Männer in Pogrom-Stimmung hätte aufhalten müssen. Für eine solche Truppe bräuchte es dann aber auch Soldaten und Spezialisten aus den USA und Europa. Freiwillige vor!)
Was bleibt, sind einige ebenso bittere wie heilsam ernüchternde Einsichten: Das wird nicht der letzte „Rinderkrieg“ gewesen sein, denn die Republik Südsudan ist weit entfernt von einem staatlichen Gewaltmonopol und der damit einhergehenden Entwaffnung ihrer Bürger. Der junge Staat ist ebenso weit davon entfernt, solche Gräueltaten flächendeckend aufzuklären und vor Gericht zu ahnden. Aber bei aller Begrenztheit ihrer Mittel muss die Regierung in Juba jetzt klarmachen, dass solche Fehden nicht hinnehmbar sind. Und man kann nur hoffen, dass sie zu diesem Zweck nicht die eigene Armee zu einer Strafaktion losschickt, sondern zunächst zusammen mit Kirchen und lokalen Führern die Kampfparteien in einen Friedensprozess zwingt. Der beginnt zunächst einmal mit der gegenseitigen Freilassung von Entführten und der Rückgabe gestohlener Rinder.
Überhaupt werden in den nächsten Jahren Netzwerke von Kirchenvertretern, lokalen NGOs (darunter auch Frauengruppen), Ältestenräten und lokalen Verwaltungschefs immer wieder als präventive Feuerwehr einschreiten müssen. Die schlichten jetzt schon Landstreitigkeiten, verhandeln Weiderechte und Wasserversorgung und versuchen, junge Männer aus einem Teufelskreis von Rache und Ehre herauszuholen. All das ist fragil genug und soll wahrlich nicht als Loblied auf die Zauberkräfte der Zivilgesellschaft verstanden werden. Aber man darf davon ausgehen, dass auf diese Weise bereits einige Konflikte gelöst oder zumindest Schlimmes wie in Pibor verhindert worden ist.
Bis auf Weiteres fängt Konfliktprävention im Südsudan „ganz unten“ an – und sieht jedes Mal anders aus.