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Lubanga 2012 – oder: Die Lücken des Haager Strafgerichtshofs

 

„Kony 2012“ kennt inzwischen jeder. Was ist mit „Lubanga 2012“? Nein, hier geht es nicht um die nächste „Klicken gegen Kriegsherren“-Videokampagne, sondern um den ersten Prozess des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) gegen den ehemaligen kongolesischen Kriegsherren Thomas Lubanga. Schuldig im Sinne der Anklage, verkündeten die Richter in Den Haag am 14. März 2012. Ein historisches Ereignis für das Völkerrecht, für den internationalen Menschenrechtsschutz, für den Kampf gegen die Rekrutierung von Kindersoldaten und natürlich für den Gerichtshof. Auch für die Kongolesen?

Offenbar nicht.

In Bunia, im Nordosten des Kongo, in dem Lubangas Miliz schlimmste Verbrechen begangen hat, konnten die Menschen die Entscheidung nicht live am Bildschirm verfolgen. Eine solche Übertragung ist technisch durchaus möglich, sie wurde zum Beispiel im Januar 2009 zur Eröffnung des Prozesses organisiert. Dieses Mal, so die Auskunft des ICC-Sprechers in Bunia, habe der Gerichtshof kein Geld zur Verfügung gestellt. Offenbar gab es noch nicht einmal genügend Einsatz und Mittel, um den Tag der Urteilsverkündung bekannt zu machen. Die meisten Bewohner hatten nach Berichten des Institute for War and Peace Reporting keine Ahnung, dass der ICC am 14. März seine Entscheidung bekannt geben wollte.
Das ist ein Skandal.

Die Verfahren des ICC sind, wie die eines jeden anderen internationalen Tribunals, keine juristisch-intellektuellen Übungen für Völkerrechtler, Diplomaten und westliche Medien. Die normative Wirkung des Völkerstrafrechts, die solche Gerichte vorantreiben, wird maßgeblich geschmälert, wenn die Menschen in den Tatort-Regionen zu Zaungästen gemacht und schließlich ganz ignoriert werden.

„Outreach“ nennt man die Aufklärungs- und Medienarbeit, die internationale Strafgerichte leisten müssen, vor allem, wenn sie außerhalb des „Tatlandes“ ihren Sitz haben. Je größer die geografische Distanz, desto aufwendiger, teurer und schwieriger das „Outreach“-Programm. Das Haager UN-Jugoslawien-Tribunal hat da (nach großen Startschwierigkeiten) viel geleistet. Allerdings lässt sich die Distanz nach Belgrad, Sarajevo oder Zagreb sehr viel einfacher zu überbrücken, als die Distanz nach Bunia, Darfur oder Abidjan.

Um so wichtiger ist ein Minimum an Kommunikation und öffentlichem Zugang an so entscheidenden Prozesstagen wie dem der Urteilsverkündung. Das ist erstens eine Frage des Respekts vor der Bevölkerung, zweitens eine Frage des Respekts des Gerichts vor seiner eigenen Arbeit. Wenn der ICC sich derer sicher ist, dann muss er auch die Energie und die Mittel aufwenden, seine Entscheidungen immer wieder in den betreffenden Ländern zu diskutieren und gegen Kritik und Missverständnisse zu verteidigen.

Davon gab und gibt es in Bunia und dem umliegenden Bezirk Ituri reichlich. Ituri war zwischen 1999 und 2003 Schauplatz eines ethnisierten Krieges um Land, Ressourcen und politische Vorherrschaft zwischen mehreren Volksgruppen, allen voran Milizen der Hema und der Lendu. Massaker an Angehörigen der jeweils anderen Volksgruppe, Plünderungen, Rekrutierungen von Kindersoldaten, Vergewaltigungen – der Katalog der Verbrechen in Ituri ist lang. Viele Menschen haben bis heute nicht verstanden, warum Thomas Lubanga, der damaligen Führer der Hema-Partei und ihrer Miliz, nur der Rekrutierung von Kindersoldaten angeklagt worden ist.

Nun, weil die Anklagebehörde sich im allerersten Verfahren, das ohnehin schon mit allerlei Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen hatte, nicht verzetteln wollte. Das ist eine durchaus nachvollziehbare Erklärung – man muss sie bloß am Ort selbst immer und immer wieder vermitteln.

Ein anderer Kritikpunkt ist politisch sehr viel heikler: Im Ituri-Krieg haben auch die Armeen der Nachbarländer, allen voran Uganda, mitgemischt, mitgeplündert und getötet. Die Spur nach Kampala ist jedoch von der Anklagebehörde des ICC nie aufgenommen worden.

Womit wir wieder bei Joseph Kony sind. Nicht bei der Kampagne „Kony 2012“, sondern bei der Uganda-Akte des ICC. Die ersten Haftbefehle überhaupt hatte der ICC 2005 gegen Kony und vier seiner ranghöchsten Kommandanten der Lord’s Resistance Army (LRA) ausgestellt. Über die Schwere der Verbrechen der LRA gegen die Zivilbevölkerung (zuerst in Uganda, jetzt im Kongo, im Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik) besteht kein Zweifel. Über die Unparteilichkeit der Ermittlungen des ICC sehr wohl. Während des Krieges gegen die LRA in Norduganda hat die ugandische Armee die dortige Bevölkerung mit massiver Gewalt in Lager getrieben – angeblich zu ihrem Schutz. Organisationen wie Human Rights Watch haben zahlreiche Fälle von Morden, Entführungen, Vergewaltigungen und Folter durch das Militär dokumentiert.
Trotz wiederholter Beteuerungen von Chefankläger Luis Moreno Ocampo, in alle Richtungen zu ermitteln, wurde nie ein Verfahren gegen einen Offizier der ugandischen Armee eingeleitet. „Unfinished Business“ lautet die Überschrift über einen HRW-Bericht, der eben das kritisiert.
Auftrag (noch) nicht erledigt.