Es wird Frühling, auch wenn es sich hier noch nicht so anfühlt. Die Bootssaison beginnt. Die Schlepper an der nordafrikanischen Küste präparieren ihre Fischkutter, Schlauchboote und sonstigen Nussschalen, in die sie möglichst viele Menschen quetschen werden, die nach Europa wollen. Es werden auch diesen Sommer wieder hunderte solcher Bootsinsassen ertrinken.
Neu ist in diesem Jahr 2012, dass wir inzwischen wissen, wie das Ertrinken lassen abläuft. Oder: wie es ablief im vergangenen März auf einem überfüllten Boot in den libyschen Hoheitsgewässern. Neun Monate hat eine Untersuchungskommission des Europarats recherchiert, hat Überlebende befragt, Funkmeldungen ausgewertet und, nicht immer erfolgreich, versucht, an die Unterlagen der Nato heranzukommen. Nun hat sie ihr Fazit gezogen: die Nato, die europäischen Küstenwachen und private Reedereien haben sträflich versagt, als sie im März vergangenen Jahres 63 Menschen in einem Flüchtlingsboot im Mittelmeer sterben, genauer gesagt: verrecken ließen.
2011 kamen mindestens 1500 Menschen bei dem Versuch ums Leben, in Schmuggelbooten Europa zu erreichen. Die meisten waren an der libyschen Küste aufgebrochen. Viele von ihnen waren Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea, dem Sudan, die zu Zeiten, als Muammar al Gaddafi von der EU noch als Türsteher umworben wurde, in Libyen gestrandet und dann zwischen die Fronten des Krieges geraten. Als Dunkelhäutige wurden sie von Rebellen mit Gaddafis Söldnern aus Ländern der Sub-Sahara gleich gesetzt. Gaddafi-Loyalisten wiederum trieben sie mit Gewalt ins Meer, um Europa mit einer „Flüchtlingswelle“ dafür zu „bestrafen“, sich gegen den Diktator gewandt zu haben.
Der Fall der 63 toten Flüchtlinge vom März 2011 erregte deshalb so viel Aufsehen, weil die neun Überlebenden berichteten, ihre in Seenot treibendes Schlauchboot sei von mehreren Schiffen, darunter mindestens einem Nato-Kriegschiff, sowie einer Hubschrauber-Besatzung gesichtet worden.
Bereits nach achtzehn Stunden auf See hatten die Flüchtlinge einen Notruf an einen Pfarrer in Italien abgesetzt, der seinerseits sofort die italienische Küstenwache informierte. Statt einer Rettungsaktion entwickelte sich eine lückenlose Kette unterlassener Hilfeleistungen:
„Eine Reihe von Organisationen und Ländern waren über diese Situation auf dem Laufenden – und niemand griff ein. Noch am zehnten Tag auf Seenot, als bereits eine Reihe von Menschen tot waren, schauten Uniformierte von den Militärschiffen mit Ferngläsern hinüber zu dem Schlauchboot. Die Flüchtlinge gestikulierten wild, hielten tote Babys in die Höhe, versuchten, deutlich zu machen, dass sie kein Wasser und keinen Treibstoff mehr hätten. Und das Militärschiff drehte nur ab.“
So schildert Tineke Strik, niederländische Autorin des Berichts für den Europarat, die Ereignisse jener Tage und Nächte auf dem Mittelmeer. Auf die Frage, ob sich eine solche Katastrophe wieder ereignen könnte, antwortete die Ermittlerin: „Ich fürchte, ja.“
Strik kann und will niemanden allein verantwortlich machen – und das ist das Perfide an der Sache: Jeder der Hilfsverweigerer beruft sich darauf, dass eigentlich jemand anderes zuständig gewesen wäre. Die Nato-Schiffe hatten keine Anweisung, Flüchtlinge aus dem libyischen Küstengebiet zu retten; die Fischereikapitäne wissen inzwischen, dass ihnen solche Hilfe einen Prozess wegen Menschenschmuggels einbringen kann; die italienische Küstenwache streitet seit Jahren mit ihren maltesischen Kollegen, wer auf welchen Notruf reagieren und die Geretteten dann auch erst einmal aufnehmen muss. Die mittel-und nordeuropäischen Länder halten sich ohnehin raus. Dass es eine Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot gibt, geht dabei im wahrsten Sinne des Wortes unter. Und die Substanz von Menschenrechten ebenfalls. Jedes Bekenntnis zu Menschenrechte, sagte Strik, werde bedeutungslos, wenn „wir gleichzeitig Menschen sterben lassen – vielleicht weil wir ihre Identität nicht kennen oder weil sie aus Afrika kommen.“
Der Europarat will nun per Resolution fordern, die Praxis der Seerettung im Mittelmeer zu untersuchen und klare verbindliche Zuständigkeiten herzustellen. Der Europarat, nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat, hat 47 Mitgliedsnationen, sitzt in Straßburg, ist institutionell nicht mit der EU, wohl aber mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verbunden (EGMR). Der EGMR verurteilte vor einigen Monaten Italien zu Schadensersatzzahlung an mehrere Flüchtlinge, die von der italienischen Küstenwache im Jahr 2009 nach Libyen ohne jede Anhörung von Fluchtgründen zurück verfrachtet worden waren – ein klarer Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und ein Urteil, das die gesamte europäische Asylpolitik auf den Prüfstand stellt.
Auch der Tod der 63 Flüchtlinge im März 2011 könnte juristische Folgen haben. Menschenrechtsanwälte erwägen eine Klage vor dem EGMR gegen die Nato und die spanische Kriegsmarine, deren Fregatte Mendez Nuñez sich in der Nähe des Flüchtlingsboots aufgehalten haben soll.
Das ist zum Osterfest doch keine so schlechte Nachricht.