Air MONUC sei Dank: Die Reise von Kinshasa nach Bukavu, vom Westen des Kongo an die Ostgrenze, dauert nur vier Stunden. Das Flugzeug ist eine solide aussehende Boeing 727, die russischen Piloten wirken stocknüchtern im Gegensatz zu ihren Landsleuten, die im Kongo mit altersschwachen Propellermücken auf eigene Rechnung Menschen, Tiere und Waren transportieren. Die UN-Flotte von Passagier- und Transportmaschinen hat dieses zerrissene Riesenland wenigstens an einigen Stellen wieder vernetzt.
Air MONUC befördert nicht nur UN-Personal, sondern, wenn Platz ist, auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, kongolesische Abgeordnete, Wahlhelfer, Journalisten. Und zwar umsonst. Hin und wieder muss man über die UN-Mission im Kongo Gutes verbreiten. Kritisiert und verschmäht wird sie oft genug.
Bukavu liegt in einer traumhaft schönen Region des Landes. „Die kongolesische Schweiz“, nennen sie manche. Berge und eine Kette großer Seen ziehen sich an der Ostgrenze entlang. Die Landschaft bietet sattes Grün in allen Nuancen. Maisfelder, Palmen, Avocado-und Banenenbäume. Marktstände voller Zwiebeln, Tomaten, Süßkartoffeln, Maniok und Zuckerrohr. Die Luft ist klarer und kühler. Eine Labsal nach sieben Tagen im drückend feuchten, moskitoverseuchten Kinshasa – vorausgesetzt, man vergisst, dass der Krieg hier und nicht in der Hauptstadt getobt hat. Für die Frauen im Osten ist er immer noch nicht zu Ende.
Jeden Tag zieht eine Karawane neuer Opfer in Bukavu den Hügel hinauf zum Panzi-Hospital, einer aufgeräumten Ansammlung von Steinpavillons. Frauen in Wickelröcken und Gummisandalen, die Kopftücher mit Witwe-Bolle-Knoten über der Stirn befestigt. Manche laufen gekrümmt, manche werden von Verwandten getragen, manche gehen abseits, weil sie nach Urin und Kot stinken. Sie kommen aus Kalehe, aus Kitutu oder Buniakiri, aus den Kleinstädten und Dörfen der Provinz Süd-Kivu, wo keine Blauhelme stationiert sind, und Hilfsorganisationen sich nur selten hinwagen.
Hier kontrollieren immer noch Hutu-Milizen große Gebiete. Das sind Angehörige jener „Interahamwe“, die 1994 in Ruanda innerhalb weniger Wochen 800.000 Tutsi ermordeten, bevor sie vor einer Tutsi-Rebellenarmee über die Grenze in den Kongo flohen. Der Genozid in Ruanda war der Auftakt des Massensterbens im Nachbarland. Was als ruandisch gesteuerte Intervention gegen die Interahamwe und das Hutu-freundliche Mobutu-Regime begann, mündete in einen Plünderkrieg unter Beteiligung von sechs Nachbarländern, Dutzenden von Warlords und ausländischen Rohstofffirmen. Soviel in aller Kürze zum „afrikanischen Weltkrieg“, an dessen Folgen fast vier Millionen Menschen gestorben sind, überwiegend Zivilisten.
In keinem anderen Krieg wurde Vergewaltigung so systematisch und brutal als militärische Strategie eingesetzt. Seit dem Friedensabkommen 2002 geschieht das Morden im Osten nur noch sporadisch. Die sexuelle Gewalt aber geht ungehindert weiter.
Alle Patientinnen, die laufen können, sehe ich an diesem Morgen beim Frühgottesdienst. Ein Studentenchor singt Kirchenlieder. „Ein bißchen was zur Aufmunterung“, sagt der Leiter des Krankenhauses, Doktor Denis Mukwege. Gut 200 Frauen drängen sich auf den Bänken, ziehen die Schultertücher enger, weil es kühl ist an diesem Morgen, murmeln immer lauter „Amen“, als der Prediger in Fahrt gerät, eine krümmt sich, schreit etwas heraus, die meisten recken einen Arm gen Himmel, andere verstecken ihre abgestorbenen Hände im Schoss. Ihre Vergewaltiger haben sie wochenlang an Bäume gefesselt und jede Blutzufuhr unterbrochen. Das ist ein Markenzeichen der Hutu-Rebellen.
Mukwege klopft ungeduldig auf seine Armbanduhr, weil der Prediger seine Redezeit von fünfzehn Minuten überzieht. Doktor Mukwege hat heute zehn Operationen auf dem Plan. Bei einigen Patientinnen muss er am Harn- und Darmtrakt operieren, damit die Frauen wieder Urin und Stuhlgang kontrollieren können. Das Stigma der Vergewaltigung ist schon schlimm genug. Wenn die Opfer auch noch stinken, stösst die Dorfgemeinschaft sie aus wie Lepra-Kranke. Bei anderen sind Beckenbrüche zu richten, Fisteln zu entfernen. Die Behandlung ist kostenlos, das Krankenhaus für kongolesische Verhältnisse gut ausgestattet, das Geld kommt größtenteils von ECHO, dem Nothilfebüro der Europäischen Kommission.
„Wissen Sie, was ich mache, wenn es zu schlimm wird?“ Doktor Cecile Mulolo springt von ihrem Stuhl auf und demonstriert ihre Gymnastikübungen. „Und dann mache ich mentales Trainung. Ich atme tief durch uns sage mir zehn Mal: ‚Du musst Deine Gefühle im Zaum halten, Du musst Deine Gefühle im Zaum halten.“ Mulolo ist die Chefpsychologin am Panzi-Krankenhaus, eine 33 jährige Mutter von zwei Kindern. Seit ein paar Monaten sind es drei, weil sie eine 14-jährige ehemalige Patientin bei sich aufgenommen hat. Doktor Mulolo hört sich die Geschichten der Frauen an, sie teilt ihnen mit, wie der AIDS-Test ausgefallen ist, sie sitzt stundenlang bei denen, die sich umbringen wollen, sie redet auf die Ehemänner ein, ihren Frauen beizustehen – auch wenn sie jetzt „beschmutzt“ sind.
Ausser Cecile Mulolo gibt es nur noch eine Psychologin in Bukavu, die auf Trauma-Therapie spezialisiert ist. Bei der redet sie sich den Horror von der Seele, denn manche Geschichten werden zu ihren eigenen Alpträumen. Die von Mama Mosambi zum Beispiel, der 36 jährigen Mutter aus Kitutu, der Hutu-Rebellen heiß geschmolzenes Plastik in die Vagina gossen, weil sie bei der Vergewaltigung gebissen und gespuckt hatte. Oder die von Mama Zawadi, der siebenfachen Mutter aus Buniakiri, die mit vier Familienangehörigen von Hutu-Rebellen entführt wurde, tagelang vergewaltigt wurde, und fliehen konnte, als man sie zwingen wollte, das Fleisch ihrer ermordeten Cousine zu essen. „Dahinter steckt immer das gleiche Ziel“, sagt Doktor Mulolo. „Wenn man die Frauen zerstört, zerstört man die Familie und irgendwann auch das ganze Dorf.“
Die Tür zu ihrem Büro geht auf, ein Patientin will sich verabschieden. Sie wird nach drei Monaten entlassen. Jetzt steht sie kerzengerade da, drückt lange die Hand der Psychologin. Doktor Mulolo sieht mich an, deutet auf die Frau. „Darf ich vorstellen: Mama Zawadi.“ Ich erkenne sie wieder, und frage sie, was sie beim Morgengottesdienst so verzweifelt gen Himmel geschrien hatte. „Gott war lange Zeit sehr weit weg,“ antwortet sie, „ich wollte ihm nur zeigen, dass ich ihn nicht vergessen habe.“ Das Krankenhaus hat ihr ein paar Dollar für die Rückreise nach Buniakiri mitgegeben.
Es ist eine Reise ins Ungewisse. Sie weiss nicht, wie man sie dort aufnehmen wird, ob immer noch Hutu-Rebellen in der Gegend sind. Sie nimmt meine Hand, bedankt sich auch bei mir. Weil ich die einzige „Muzungu“, die einzige Weisse, weit und breit bin, ordnet sie mich automatisch jenen zu, die dieses Krankenhaus bezahlen. Und sie möchte eine Bitte aussprechen. „Madame, schicken Sie Soldaten hierher, damit das endlich aufhört.“ Mir fällt nichts anderes ein, als ihr viel Glück zu wünschen, was in meinen Ohren wie der blanke Hohn klingt. Sie nickt dankbar und geht.
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