Sie hätten ihn gerne gesehen, wie er da sitzt auf der Anklagebank im makellosen Anzug, flankiert von Sicherheitsbeamten. Sie hätten gern erlebt, wie er, der selbstherrliche Schwadroneur, nur reden darf, wenn die Richterin ihm das Wort erteilt. Vielleicht hätte Charles Taylor irgendwann durch die kugelsichere Glasscheibe in den Zuschauerraum geblickt auf die Männer und Frauen aus Grafton, dem Dorf der Versehrten. Jussu Jarka, der zwei stählerne Greifhaken hat, wo andere Leute Hände haben, Edward Conteh mit seinem Armstummel, an den keine Prothese passt, oder Kadiatu Fofanah, die Frau ohne Beine. Sie hätten gern das Gesicht jenes Mannes studiert, der einst gesagt hat: „Auch Sierra Leone wird die Bitterkeit der Krieges schmecken.“
Eigentlich sollte der Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Staatspräsidenten Charles Taylor heute in der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown beginnen, in Saal II des internationalen Sondergerichts. Das Gericht liegt an der Jomo Kenyatta Road mitten in der Stadt, ein schön geschwungenes Gebäude, das von Weitem wirkt wie ein unbekanntes Flugobjekt: zwei Rundbauten, darüber ein Dach, dessen Hälfte wie Tragflächen gen Himmel ragen. Drumherum Dutzende von weißen Bürocontainern, eine Haftanstalt und Mauern mit Stacheldraht. Eine Festung mit eigener Stromversorgung, Sicherheitsschleusen und Cafeteria, in der Staatsanwälte aus den USA, Richterinnen und Richter aus Uganda, Sierra Leone, Samoa und Österreich in der Mittagspause anstehen. Außerdem Gefängniswärter aus Nordirland und Südafrika, Gerichtsdiener aus Großbritannien, Archivare aus Tansania. Für den militärischen Schutz sorgen Blauhelme aus der Mongolei. Ein Babylon des Völkerrechts mitten in Westafrika, errichtet mit Hilfe der Vereinten Nationen, um die Hauptverantwortlichen des elfjährigen Plünderkrieges in Sierra Leone zur Verantwortung zu ziehen. Acht ehemalige Rebellen- und Milizenführer sitzen derzeit in der Haftanstalt des Sondergerichts und warten auf ihre Urteile. Der neunte und prominenteste Angeklagte hat hier nur kurze Zeit eine Zelle belegt. Aus Sicherheitsgründen hat man den Prozess gegen Liberias Ex-Präsidenten Charles Taylor nach Den Haag verlegt. Ein Gerichtsverfahren in Westafrika, so die Befürchtung, könnte den immer noch fragilen Frieden in der Region gefährden, vor allem in Taylors Heimatland Liberia. „Das Gericht“, sagt Jussu Jarka, der Mann mit den Greifhaken, „wird schon wissen, was es tut“.
„Gewidmet den Opfern des Konflikts in Sierra Leone“, steht auf der Messingplakette am Eingang des Sondergerichts in Freetown. „Konflikt“ ist ein zu mildes Wort für das, was sich zwischen 1991 und 2002 in diesem Land abgespielt hat. Auch die Anklageschrift gegen Taylor gibt das Grauen nur unvollkommen wieder: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in elf Fällen – darunter „terroristische Akte gegen die Zivilbevölkerung“, „sexuelle Gewalt“, „Rekrutierung von Kindersoldaten“, „Verschleppung und Zwangsarbeit“. Die Täter waren Angehörige der „Revolutionary United Front“, eine Rebellengruppe angeführt von einem ehemaligen Hochzeitsfotografen namens Foday Sankoh. Die RUF rekrutierte massenweise Kindersoldaten in ihren „Small Boys Units“ und „Small Girls Units“. Andere Kinder wurden Einheiten zugeteilt, deren Namen ihre Spezialität des Tötens auswies: Es gab „Burn House Units“, es gab die „Born Naked Squad“, deren Opfer sich vor ihrer Ermordung nackt ausziehen mussten, oder die „Cut Hands Commandos“, die Zivilisten wie Jussu Jarka oder Kadiatu Fofanah Arme und Beine abschlugen. Taylor hatte die RUF finanziert und ausgerüstet, um in den neunziger Jahren eine ihm nicht genehme Regierung in Sierra Leone zu stürzen und sich Zugang zu den Diamantenvorkommen des Nachbarlandes zu verschaffen.
Der Fall Taylor ist nach dem Prozess gegen Slobodan Milosevic das zweite Gerichtsverfahren, in dem sich ein ehemaliges Staatsoberhaupt für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während seiner Amtszeit verantworten muss. Die Anklageerhebung allein ist ein Meilenstein in der Geschichte des Völkerstrafrechts und für den Grundsatz „Kein Frieden ohne Gerechtigkeit“. Die Frage ist nur: Reicht das, um den Überlebenden in Sierra Leone Genüge zu tun?
Dass das Sondergericht laut Mandat nur die „Personen mit der größten Verantwortung“ anklagen kann, war anfangs schwer zu vermitteln in einem Land, in dem jeder mindestens einen Ermordeten kannte – und im Zweifelsfall auch einen Mörder. Aber inzwischen hat sich herumgesprochen, dass hier ein Gericht der Straflosigkeit den Kampf angesagt hat. Es gibt in Sierra Leone kaum ein Dorf, das noch nicht von Vertretern des Sondergerichts über seinen Sinn und Zweck aufgeklärt worden ist. Nur kann ein internationales Gericht allein nicht die Gräueltaten und Traumata von elf Jahren Krieg aufarbeiten. Der Idealfall, sagt die österreichische Juristin Renate Winter, Richterin an der Berufungskammer des Sondergerichts, sei ein Dreieck, bestehend aus internationalem Tribunal zur Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen, einer Wahrheits- und Versöhnungskommission zur Aufarbeitung und Dokumentation der Verbrechen sowie eine nationale Strafjustiz, die gegen die zweite, dritte oder vierte Garde der Kriegsverbrecher vorgeht. Von einer funktionstüchtigen nationalen Gerichtsbarkeit ist in Sierra Leone auch fünf Jahre nach Kriegsende fast nichts zu sehen; die Wahrheits- und Versöhnungskommission hat zwar einen in internationalen Fachkreisen hoch gelobten Abschlussbericht herausgegeben. Der aber hat in einem Land mit einer Analphabetenrate von 65 Prozent kaum Beachtung gefunden. Und dem internationalen Sondergericht wird zum Teil der eigene Erfolg zum Problem. Es war eine enorme logistische Leistung, innerhalb kürzester Zeit in einem kriegszerstörten Land ein funktionierendes Gericht aus dem Boden zu stampfen. Im Vergleich zu anderen internationalen Tribunalen ist das Sondergericht in Freetown eine karg ausgestattete Einrichtung. Gemessen an den Lebensumständen der meisten Einheimischen ist es eine Luxus-Oase mit eigener Strom- und Wasserversorgung. Die Angeklagten erhalten drei Mahlzeiten am Tag, werden ärztlich betreut, haben Zugang zu Fernseher und Fitnessgeräten. Im übrigen Land knurren die Mägen, es grassieren Malaria, Diarrhö, und wer Glück hat, kann sich für einen Becher Reis in den Diamantenfeldern den Rücken krumm schuften. „Kriegsverbrecher müsste man sein“, sagt Edward Conteh, ein bulliger 66-jähriger Großvater, der jeden Morgen Gott dafür dankt, dass er „mir einen starken Körper und acht afrikanische Söhne geschenkt hat“.
Conteh lebt heute mit anderen Schicksalsgenossen in Grafton, einer Art Vorstadtsiedlung für Versehrte, eine Autostunde von der Hauptstadt Freetown entfernt. Eine norwegische NGO hat ihnen Häuser gebaut. In einem Block haben sich die Blinden eingerichtet, daneben die Polio-Kranken und auf der anderen Seite der Hauptstraße die Amputierten. Hier draußen starrt sie keiner an, hier sind sie die „Normalen“. Jussu Jarka hatten RUF-Rebellen im Januar 1999 beide Unterarme abgeschlagen, weil er seine Tochter vor ihnen schützen wollte. Edward Conteh geriet in eine RUF-Patrouille, als er im belagerten Freetown Essen für seine Familie suchte. Dem alten Sorie schlug ein zwölfjähriger Kindersoldat die Hand ab, um sie mit anderen Trophäen in einer Plastiktüte seinem Kommandanten zu präsentieren. Und Kadiatu Fofanah hackte man beide Füße ab – als „Strafe“ für einen Fluchtversuch;
Diese Geschichten erzählen sie sich in ihrer Siedlung heute wie Anekdoten aus einer Kneipenschlägerei. Man steht dann dabei und weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. „Mensch Sorie,“ sagt Conteh und haut seinem einarmigen Nachbarn auf die Schulter, „bei dir mussten sie drei Mal zuschlagen, bis der Arm ab war, so zäh bist du“. Das sei ihre Art, den Horror zu verarbeiten, sagt Conteh. Das und ihr Kampf für Entschädigung. Denn trotz ausdrücklicher Empfehlung der sierra-leonischen Wahrheitskommission haben die Kriegsverwundeten, Verstümmelten und Geplünderten bis heute keinen Cent erhalten. „Warum so viel Geld für die Auseinandersetzung mit den Tätern ausgeben“, fragen sie, „wenn die Opfer leer ausgehen?“
Einmal in der Woche fahren einige der Amputierten aus Gratfon mit dem Sammeltaxi in die Stadt, um zu betteln. Das Wohlwollen und die Spendenfreude der Leute hält sich in Grenzen. Sierra Leone ist ein bitterarmes Land, in der der tägliche Überlebenskampf mehr Platz einnimmt als die Aufarbeitung des Krieges. Mit ihren Prothesen und Stümpfen sind die Amputierten lebende Mahnmale, eine permanente Erinnerung an elf Jahre Wahnsinn – und nicht jeder will erinnert werden. Edward Conteh weigert sich zu betteln, er verdient sich ein bisschen Geld als Fotograf von Passbildern. „Die Hand darf halt nicht zittern.“
Das Geld für ein Sammeltaxi zum Prozess gegen Charles Taylor hätten sie schon irgendwie zusammengebracht. Aber der sitzt nun eben auf einer Anklagebank in den Niederlanden. Also warten die Amputierten in Grafton auf den Boten aus Freetown, der ihnen Videoaufzeichnungen der Verhandlung bringen wird. Das sehen sie sich dann im „Straßenkino“ an, einer jener Bretterbuden mit Fernseher, Generator und Bierausschank, in denen sonst nigerianische Seifenopern oder Kung-Fu-Filme gezeigt werden. Edward Conteh kann es bis heute nicht verwinden, dass Foday Sankoh, der RUF-Führer und Weggefährte Taylors, kurz nach Beginn seines Prozesses friedlich an den Folgen eines Schlaganfalls starb. Von Charles Taylor erhofft er sich mehr Durchhaltevermögen.
Der Angeklagte Taylor, so viel sei noch gesagt, gilt als mustergültiger Häftling. Er habe „vorzüglich kooperiert“, sagen die Wärter in Freetown. Auch aus Den Haag, wo Taylor nun neben dem Häftlingsblock des UN-Jugoslawien-Tribunals einsitzt, sind keine Klagen zu hören. Der ehemalige Präsident beschwere sich allerdings über die „eurozentrische Küche“ und mangelnde soziale Kontakte. Sein Verteidiger hat bei der Gefängnisleitung beantragt, seinen Mandanten während der Aufschlusszeiten mit den Häftlingen des UN-Jugoslawien-Tribunals zusammenzubringen. Wenn man den Berichten aus dem Gefängnisinneren trauen darf, haben diese hinter Mauern einen Mini-Kosmos jenes alten Jugoslawiens wieder aufleben lassen, das sie in den neunziger Jahren so gründlich zerstört hatten. Sie spielen zusammen Schach, tauschen beim Töpferkurs Kriegsanekdoten aus und lernen gemeinsam Englisch. Taylor hat in seinem Haftblock bislang nur Kontakt mit Thomas Lubanga, einem ehemaligen Warlord aus dem Kongo, der vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Rekrutierung von Kindersoldaten angeklagt ist. Taylor spricht englisch, Lubanga französisch. Folglich haben sich die beiden nicht viel zu sagen.
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